Sie haben ein dickes Buch zum Thema Müdigkeit geschrieben, es heißt „Energy!“. Müdigkeit wird ja oft als Bagatelle abgetan. Woher kommt das?

Dr. Anne Fleck: Viele Menschen haben verlernt, zu erkennen, was eine normale, gesunde Müdigkeit ist. Wenn man sich körperlich und geistig ausgepowert hat und abends platt ins Bett fällt, ist Müdesein etwas Schönes und Normales. Seit Jahren kommen aber Menschen zu mir in die Praxis mit diesem beiläufigen Satz „Ich bin immer so müde und schlapp, aber es ist ja alles in bester Ordnung!“ 

Wenn uns aber das Energielevel fehlt, können wir unsere Talente und besonderen Fähigkeiten nicht leben – wir können nicht der Mensch sein, der wir sind. Sei es nur, dass man sich mit Freunden verabreden will, sich aber zu schlapp dafür fühlt. Das ist nicht normal. Deswegen war es mir ein Anliegen, mit diesem Buch mein ganzes Wissen zum Thema herauszuhauen. Dabei geht es um eine detaillierte Spurensuche. Müdigkeit ist, wie alles, was der Körper uns schickt, ein liebgemeintes Anklopfen: Hier, schau doch mal hin. Wenn man das lapidar an sich vorüberziehen lässt, können sich daraus über die Jahrzehnte schwere Krankheiten entwickeln. 

Können Sie ein Beispiel geben?

Unentdeckte Entzündung im Körper machen müde und zeigen sich gerne durch Jucken, Augentränen, häufiges Niesen, Schnupfen und entzündliche Hauterkrankungen. Wenn man das alles lapidar durchwinkt, weil die klassischen Blutwerte normal sind, dann sind diese Entzündungen die Transportrakete für Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Demenz und Krebs. Deshalb ist es so wichtig, ohne Panik genauer hinzuschauen. Ich bin ein Freund von einfachen Dingen. Vieles ist eine Frage von Rhythmus, Schlaf, Ernährung, Bewegung. Wie kann ich meine Verdauung auf Vordermann bringen, meinen Darm sanieren? Mit einfachen Schritten ist so viel getan. Nicht nur, um das Energielevel zu verbessern, sondern auch, um die Gesundheit im Alter zu bewahren.  

Energy!

Zu Beginn Ihres Buches empfehlen Sie gründliches Kauen. Was hat Kauen mit Müdigkeit zu tun? 

Wenn wir gut kauen, kann der Nahrungsbrei besser verdaut werden. Das sorgt für eine bessere Mikronährstoffversorgung. Eine bessere Mikronährstoffversorgung führt zu einem besseren Energielevel. Ich sehe so viele Menschen, die Mängel haben, wenn man gezielt im Blut nach Mikronährstoffdefiziten sucht. Vitamin-C-Mangel, Magnesium und andere Mineralstoffe, Vitamin-D-Mangel. Der zweite Grund ist: Wenn wir über Jahrzehnte nicht richtig kauen, kommen wiederholt schlechtgekaute Nahrungsbrocken im Darm an. Und diese Brocken sorgen dafür, dass sich unser Mikrobiom, die Darmgesundheit, verschlechtert. Das ist dann das Einfallstor für Entzündungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Autoimmunerkrankungen. 

Um möglichen Lebensmittelunverträglichkeiten auf die Spur zu kommen, empfehlen Sie ein zweiwöchiges Selbsthilfeprogramm: Zucker ist gestrichen, ebenso Alkohol, Kaffee, Gluten, Obst, teilweise Milchprodukte. Warum so streng?

Die wenigsten wissen, ob sie zum Beispiel eine Milcheiweißunverträglichkeit haben. Wenn sie dann Joghurt essen oder einen Milchkaffee trinken, bekommen sie ein schleimiges Gefühl im Rachen, müssen häufiger niesen oder werden müde. Wenn man weiß, dass man zum Beispiel Gluten verträgt, dann ist es kein Problem, ab und zu glutenhaltiges Getreide zu essen. In einem Punkt bin ich aber streng: Von Süßstoffen jeglicher Art rate ich ab, auch von Zusatzstoffen. Süßstoffe, egal aus welcher Quelle sie kommen, wirken besonders dramatisch auf die Darmflora. Es spricht aber nichts dagegen, mal ein Stück Schokolade oder Omas Streuselkuchen zu genießen. Es geht mir dabei nicht ums Schlanksein. Schlank bedeutet nicht zwingend, gesund zu sein. Viele Menschen sind dünne Dicke, also schlank und krank. Das ist ganz oft durch fatale Kombinationen verursacht. Etwa Milcheiweiß kombiniert mit Süßstoffen wie im klassischen Eiweißshake. Das ist wirklich ein Schlappmacher für den Darm. Davon rate ich meinen Patienten klar ab. 

Was sind denn dünne Dicke?

Dünne Dicke sind die sogenannten „Tofis“. Das ist ein wissenschaftlicher Begriff für „thin outside, fat inside“. Bis zu 40 Prozent der Menschen gehören hierzulande dazu. Raucher sind fast alle in dieser Rubrik zu verorten. Das sind Menschen, die äußerlich schlank sind, aber entzündlich veränderte Fettzellen im Körper haben. Damit sind sie in derselben Risikokategorie wie die klassischen Übergewichtigen. Sie haben also genau dasselbe Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Demenz und Krebs. 

Sind das diese stillen Entzündungen, von denen Sie in Ihrem Buch sprechen?

Ja, genau. Das Problem ist, dass viele Leute sagen: Ach, du bist so schön schlank, du hast ja keine Sorgen. Das denken viele, die schlank sind, auch von sich selbst. Deswegen werden bei ihnen Entzündungen im Körper nicht entdeckt. Entzündungen wie auch Autoimmunerkrankungen kommen aber nicht einfach plötzlich. Der Körper kommt nicht plötzlich auf die Idee, sich selber zu schaden. Er will immer etwas abwehren. Entzündungen im Körper entstehen durch zu häufiges und falsches Essen, also zu viel Zucker, zu viele Kohlenhydrate. Wer von früh bis abends Bio-Getreidebrötchen isst, tut sich auch keinen Gefallen. Oder wer zu wenig hochwertige anti-entzündliche Lebensmittel isst, wie Omega3-Fettsäuren und Algen-Öle aus guter Qualität.

Von Autoimmunerkrankungen liest und hört man immer öfter …

Wissenschaftler gehen davon aus, dass 8 bis 15 Prozent der Bevölkerung hierzulande betroffen sind. Das hat damit zu tun, dass nicht darauf geachtet wird, was Menschen gut vertragen. Wer kein Gluten verträgt und es jahrzehntelang isst, bekommt irgendwann ein körperliches Problem. 

Jetzt haben wir viel über Nahrungsmittel gesprochen. Sie identifizieren aber auch die Halswirbelsäule als mögliche Ursache für dauerhafte Müdigkeit. 

Das ist ein ganz entscheidender Faktor. Ich frage in meinen Sprechstunden oder Kursen immer: Hatten Sie ein Schleudertrauma, einen Auffahrunfall, sind Sie vom Pferd gefallen oder waren Sie eine Zangengeburt? Der Punkt ist der, dass die Halswirbelsäule von einem sehr filigranen Bandapparat ummantelt ist. Schon banale Ereignisse können ausreichen, dass die Halswirbelsäule instabil wird. Das macht im Körper eine messbare Veränderung aus. Das ist keine eingebildete Erkrankung, sondern das kann man wunderbar im Blut messen. Das instabile Genick versetzt den ganzen Körper unter Zellstress. Dieser nitrosative und oxidative Stress sind die Vorboten zu einer maximalen Entzündungsantwort des Körpers. Wird das nicht frühzeitig erkannt, sorgt es für schwere Probleme. Seitdem ich das berücksichtige, habe ich so viele Leute entdeckt, die betroffen sind. Ihnen helfen gute Manualtherapeuten und Osteopathen. Und den nitrosativen und oxidativen Stress kann man durch eine Mikronährstoff-Therapie korrigieren. 

Man liest oft, dass eine Substitution mit Nahrungsergänzungsmitteln bei einer gesunden, ausgeglichenen Ernährung unnötig sei. Das sehen Sie etwas anders, oder?

Wer das schreibt, ist kein Arzt und hat noch niemals in einer Sprechstunde die Mikronährstoffe bei einem Patienten gemessen. Wir wissen, dass so viele Menschen mangelversorgt sind. Ich denke da an die Kinder und Jugendlichen, die kein Vitamin D bekommen. Die Knochengesundheit wird bis zum 30. Lebensjahr geformt. Wir brauchen Vitamin D nicht nur für die Knochen, wir brauchen es zum Schutz vor Herzinfarkt, Demenz, Mangeldepressionen und Diabetes. Das ist etwas, das modern aufgestellte Präventivmediziner richtig verzweifeln lässt, weil es so oft nicht korrekt geschrieben wird.

Man muss natürlich richtig und individuell ergänzen. Und nicht nach dem Motto: Viel hilft viel. Die meisten Menschen haben hierzulande einen Mangel an Omega 3, Vitamin B12, Jod, Selen, Vitamin D und Magnesium. Und sogar an Vitamin C, obwohl es immer heißt, damit seien die meisten gut versorgt. Immerhin werden Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, inzwischen gut beraten und ergänzen oft lebenslang. 

Was kann denn zum Beispiel passieren, wenn jemand nicht genügend Omega-3-Fettsäuren zu sich nimmt?

Ich hatte vor wenigen Wochen einen jungen Mann hier. Seit seinem siebten Lebensjahr isst er vegetarisch. Er hat aber nie Omega-3-Fettsäuren ergänzt. Er ist Fotograf, seine Existenz hängt also von seinen Augen ab. Nun hat er eine Makula-Degeneration, eine Erkrankung des Auges, die wahrscheinlich zur Erblindung führt. 

Leinöl allein reicht nicht aus, weil auch man langkettige Omega-3-Fettsäuren braucht, beispielsweise aus fettem Fisch. Jetzt ist der Fisch aber teilweise überfischt oder belastet. Daher setzt man auf innovative Kombinationsprodukte aus Leinöl mit einem Zusatz aus DHEA/ EPA. Zum Schutz vor Oxidation ist ein Spritzer Weizenkeimöl drin oder sogar Vitamin D. Das gibt es heutzutage alles fertig zu kaufen. Es gab vor etwa 15 Jahren einen sehr dramatischen Artikel, der uns Ärzte so verunsichert hat, dass viele gar keine Nahrungsergänzung mehr aufgeschrieben haben. Es gab auch Publikationen, die alles widerlegt haben. Aber das Vertrauen ist nach wie vor beschädigt. Deswegen wird es langfristig viele Menschen geben, die an Krankheiten leiden, die durch gezielte optimale Nahrungsergänzung deutlich begrenzt würden. Man muss aber auch klar sagen: Nahrungsergänzung ist nur eine Ergänzung zur Nahrung. Nichts ersetzt eine ehrliche, einfache, gute Ernährung, die zu einem passt. 

Ran an das Fett

Ihr Buch ist sehr umfangreich und detailliert. Was ist die eine Maßnahme, die Sie vor allen anderen empfehlen?

 Atmen. 

 Wieso atmen? Das macht doch jeder?

Die meisten Menschen atmen zu flach und zu schnell. Der Atem ist unser größter Energiebringer. Wenn man tief atmet, dann wirkt der Atem unmittelbar auf den Vagusnerv. Damit haben wir unmittelbar eine Drosselung der Stresshormonausschüttung. Ohne viel zu tun, haben wir einen sofortigen Entspannungseffekt. Der Trick ist: tief einatmen und länger ausatmen. 

Was empfehlen Sie noch?

Trinken Sie morgen zwei große Gläser Wasser. Und trinken Sie nichts zum Essen, sondern lieber zwischen den Mahlzeiten. Auch das verbessert die Nährstoffaufnahme. Dann sollte man sich Gedanken machen um den Darm, weil er unser stärkstes Immunorgan ist. Kauen Sie gut, trinken Sie zwischen den Mahlzeiten, essen Sie mehr Grünzeug. Peppen Sie Gerichte mit Kräutern oder Nüssen auf. Achten Sie auf einen festen Schlafrhythmus – auch am Wochenende. Schlaf ist genauso wichtig wie die Ernährung und einer der wichtigsten Gesundmacher, der viel zu sehr vernachlässigt wird. 

Darm mit Charme

Gerade mentaler Stress ist ein Energieräuber. Sie präsentieren eine lange Aufzählung von Gegenmitteln in Ihrem Buch. Besonders interessant fand ich das Geräusche sammeln, ein Hobby von Ihnen. Was machen Sie da genau?

Ich liebe es einfach, Geräusche zu sammeln. Ich habe ein gutes Gehör und pflege es auch. Ein wunderschönes Beispiel ist das Geräusch, wenn man eine Vitamin-C-Tablette in Wasser auflöst. Das klingt sehr ähnlich wie der Sommerwind, der durch Blätter raschelt, aber auch wie der Pfau, wenn er ein Rad schlägt. Stress ist grundsätzlich nichts Negatives. Schlimm fände ich es, nur Langeweile zu haben. Der Mensch sehnt sich danach, etwas Sinnvolles zu tun. Wenn der Stress überhandnimmt, empfehle ich meinen Patienten Gedankenfasten. Nicht immer alles bewerten – das schafft unmittelbar einen anderen Umgang mit Belastung. Auch morgens nach dem Aufstehen: Was hörst du als Erstes, was riechst du als Erstes, was schmeckst du als Erstes? Das bringt sehr viel Achtsamkeit. Und viel Gesundheit.