Billig, trashig und voller kreativer Freiräume: Das ist Berlin in der letzten Dekade vor dem Mauerfall, den Jahren zwischen 1979 und 1989. Die Mauer teilt die Stadt in zwei Hälften. Rund um West-Berlin herum herrscht der real existierende Sozialismus. Doch nicht nur das macht Berlin zur Insel. Im Schatten der Mauer gedeiht in den 70er und 80er Jahren eine einzigartige Subkultur.

„In den engen Begrenzungen dieser Insel sind Grenzüberschreitungen möglich, die andernorts völlig undenkbar sind.“

Wolfgang Müller: "Subkultur Westberlin 1979-1989"

Berlin, das ist in dieser Zeit das Mekka aller „(…) Mitglieder der Subkulturen, welche einst vor dem Mief und der Enge reaktionären Spießertums, den kapitalistischen Verwurstungsmaschinerien oder den Zwängen des Realsozialismus nach Berlin geflüchtet waren.“ So schreibt es der Künstler, Musiker und Schriftsteller Wolfgang Müller in seinem Buch „Subkultur Westberlin 1979-1989“. Mit seiner experimentellen Performance-Band „Die Tödliche Doris“ mischt er kräftig mit in der Szene – und wird später zu ihrem wichtigsten Chronisten.

Schluss mit Henna und Harmonie: Jetzt geht der Punk ab

Die späten 70er und frühen 80er stehen für einen Ausbruch an Kreativität, Rebellion und neuen Ideen, von dem die Stadt bis heute zehrt. Illegale Bars und Clubs werden eröffnet, Mini-Label und Underground-Verlage gegründet. Super-8-Kinos zeigen experimentelle Filme. Im queer-alternativen SO36, der Wave-Diskothek „Dschungel“ oder dem supermodernen S.O.U.N.D machen die „Antiberliner“ die Nacht zum Tage – eine Sperrstunde gibt es ja nicht. Jeder, der Bock hat, gründet eine Band – egal, ob er jemals gelernt hat, ein Instrument zu spielen, oder nicht. Musikstudium? Drauf gepfiffen. Das ist neu, das ist geil – das ist Punk. Die Bewegung schwappt 1978 von England nach Deutschland.

Das Jahr markiert das Ende der Spontibewegung. Hasch, Henna und Harmonie? Damit muss jetzt mal Schluss sein. Die ersten Punks suchen die Konfrontation. Runter mit den langen Haaren, rein mit den „Crazy colours“ aus London. Lederjacken, kaputte Netzstrümpfe, Fetischkleidung aus dem Sexshop. Hingeschmierte Hakenkreuze – um die Alt-Hippies zu provozieren und die Alt-Nazis zu entlarven. Rasierklingen um den Hals und Sicherheitsnadeln in den Ohrläppchen: Das ist der neue Look.

Es geht um Rebellion, Unangepasstheit und das Sichtbarmachen von Doppelmoral. Und es geht um Krach und Spaß. Heute vergessene Bands mit so wohlklingenden Namen wie „Krätze“, „Porno Patrol“, „Total im Arsch“ oder „Campingsex“ treten auf Festivals und in Clubs auf. Die blutjunge – und hochschwangere – Björk performt vor 20 Leuten mit ihrer Punkband „KUKL“. Und auch die Toten Hosen oder Element of Crime machen in den frühen 80er Jahren ihre ersten Gehversuche.

Leben im Scheinwerferlicht: Die besten Autobiographien von Musikern

Als der Film 1981 herauskommt, sind die Drogen-Erinnerungen des Teenagers Christiane Felscherinow schon weltbekannt. Erst schockte eine Stern-Reportage über die heroinabhängige Clique der 14-Jährigen die Republik. Kurz darauf erschien die drastische Drogen-Beichte als Buch. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gilt als erfolgreichstes deutsches Sachbuch der Nachkriegszeit. Der Bestseller – bis heute Pflichtlektüre an vielen Schulen – basiert auf vielen Stunden Interview-Material. Erst jetzt, im Februar 2021, wurden die Originalaufnahmen als Herzstück einer packenden Audio-Dokumentation veröffentlicht.

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
Das Berlin der Kinder vom Bahnhof Zoo. Eine Audio-Dokumentation

Besagte Christiane F. ist zu dem Zeitpunkt, als der Film Furore macht, übrigens clean – und versucht sich nun selbst als Sängerin. Beim Festival „Geniale Dilletanten“ steht sie zusammen mit Noise-Bands wie den „Einstürzenden Neubauten“, der schon erwähnten „Tödlichen Doris“ und Techno-Vorbereitern wie Dr. Motte und Westbam auf der Bühne. Während die erschütternd junge Natja Brunckhorst – sie ist erst 13 – als heroinsüchtige Christiane F. über die Leinwand wankt, singt die echte Christiane F. im Tempodrom: „Ick bin so süchtig, ick find’s so wunderbar“.

Das Kokettieren mit der Sucht, der Heroin-Chic – auch das gehört zu dieser Zeit. David Bowie nennt Berlin in Interviews „die Welthauptstadt des Heroins“. Er muss es wissen, denn er erholt sich in jenen Jahren selbst von seiner Drogensucht. Stattdessen entdeckt er den Glamrock und das Spiel mit den Geschlechtergrenzen für sich. Im Café „Anderes Ufer“, nur zwei Hausnummern von seiner eigenen Wohnung entfernt, geht er ein und aus. (Eine kleine Gedenktafel im Café erinnert seit 2016 daran.) Es ist das erste offen schwule Lokal Berlins – keine Eingangskontrollen, keine verdunkelten Fenster, kein Versteckspiel. Das Café wird zum Treffpunkt der Bohème von West-Berlin. Wolfgang Müller kellnert, Nina Hagen und Rio Reiser schneien herein, das It-Girl Tabea Blumenschein fummelt mit ihrer Freundin.

Eternal Flame: Die Kultromane der 80er Jahre

Berlin in den 80ern: „Das ist unser Haus!“

Möglich machen den großen kreativen Ausbruch vor allem die niedrigen Lebenshaltungskosten. Für 150 Euro im Monat kann man im Kreuzberg der späten 70er eine Wohnung mieten – jedenfalls, wenn man auf ein Klo in der Wohnung für verzichtbar hält. Kohleheizung und Außentoilette? In den ärmeren Stadtvierteln Westberlins ist das bis in die 90er Jahre hinein durchaus noch üblich.

Wer gar keine Miete zahlen kann oder will, schließt sich der Hausbesetzer-Szene an. Mehr als 160 besetzte Häuser gibt es im Westberlin der 80er Jahre. Die Besetzer wehren sich gegen den geplanten Abriss der Altbauten. Es kommt zu Großdemonstrationen, Ausschreitungen, Polizeigewalt. Am Ende siegt der zivile Ungehorsam: Die Häuser bleiben stehen, die Besetzer bekommen Verträge und können legal bleiben.

Where are we now, Berlin?

Und heute? Wer zwischen Heinrichplatz und Kotti dem Berlin der 80er Jahre nachspüren will, erlebt ein merkwürdiges Nebeneinander: Das SO36 ist noch da, ebenso berüchtigte Absturzschuppen wie die „Rote Rose“, an deren Tresen das eine oder andere Fossil der Punk-Ära die Zeit überdauert hat. Shocking ist daran nichts mehr – im Gegenteil, man möchte eine goldene Kordel um diese letzten Relikte einer vergangenen Zeit ziehen, mit einem Schildchen dran: Bitte nicht anfassen.

Drumherum quirlt – wenn nicht gerade Lockdown ist – viel junges Volk aus allerlei Ländern. Auch Jana McKinnon, die 22-jährige Christiane-F.-Darstellerin aus der aktuellen Amazon-Prime-Serie, hat die letzten zwei Jahre in Berlin verbracht. „Ich kenne die Stadt ja nur so, wie sie jetzt ist. Aber es gibt viele Leute, die mir erzählt haben, dass man die Stadt von damals mit der Stadt von heute nicht mehr vergleichen kann. Aber ich mag Berlin wahnsinnig gerne, weil es so pulsierend ist und so viele junge, kreative Menschen hier so viel schaffen“, findet die Schauspielerin. (Die Serienadaption "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" startete am 19. Februar exklusiv bei Amazon Prime Video in Deutschland, Österreich und der Schweiz.)

Und die Drogen? Auch sie sind noch da. Der Mainstream hat sie sich einverleibt, genau wie den Punk. Jana McKinnon meint dazu:

„Ich glaube, dass die Gründe für Drogenkonsum sich zum Teil verlagert haben. Früher ging es eher darum, sein Bewusstsein zu verändern und aus dem Alltag zu flüchten. Jetzt geht es stark darum, im Alltag und in der Gesellschaft überhaupt zu funktionieren. Leute, die auf Ritalin ihre Bachelorarbeit schreiben, gab es damals einfach nicht. Ich finde es krass, dass unsere Gesellschaft so auf Leistung ausgerichtet ist, dass es für manche ohne diese Substanzen gar nicht mehr schaffbar ist.“

Da kann man schon mal ein bisschen melancholisch werden. So wie David Bowie, der drei Jahre vor seinem Tod in einem tief-traurigen Song auf seine Schöneberger Zeit zurückblickte.

Weitere Hörbücher über die 80er Jahre bei Audible

Wir Kassettenkinder
Up Against The Wall - Mission Mauerfall
Die Berliner Mauer