Schwul, jüdisch, Sozialdemokrat: Magnus Hirschfeld verkörperte alles, was die Nazis hassten. Als sie am 6. Mai 1933 das von ihm gegründete „Institut für Sexualwissenschaften“ verwüsteten und die Bibliothek verbrannten, setzten sie der modernen Sexualwissenschaft in Deutschland ein jähes Ende. In den vier Jahrzehnten vor Hitlers Machtergreifung aber blühte die noch junge Disziplin in Berlin – und machte die Stadt zugleich zum Epizentrum der ersten Homosexuellen-Bewegung.

Die organisierte, homosexuelle Emanzipationsbewegung beginnt am 15. Mai 1897. Es ist der Tag, an der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld gemeinsam mit drei Mitstreitern das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ gründet. Der wegen Homosexualität und Sodomie verurteilte Schriftsteller Oscar Wilde sitzt gerade die letzten Tage seiner Haft ab. Das Komitee kämpft als erste Institution weltweit für die Abschaffung des Paragraphen 175, der Sex zwischen Männern unter Strafe stellt.

Die Zeit ist reif für einen Wandel. Zwar gibt man sich unter Kaiser Wilhelm II nach außen hin gerne tugendhaft-zugeknöpft. Tatsächlich aber ist gerade der Adel für seine erotischen Ausschweifungen berüchtigt. Wilhelms Untertanen ist die Kotze-Affäre noch gut im Gedächtnis: Ein anonymer Erpresser hatte 1891 Briefe verschickt, die eine Sex-Orgie im Jagdschloss Grunewald dokumentierten. Pikante Zeichnungen der blaublütigen Geschlechtsteile inklusive.

Das Volk war entsetzt, die Presse schlachtete den Skandal aus. Am Ende erschoss der als Intrigant verdächtigte Hofzeremonienmeister Leberecht von Kotze einen seiner Ankläger bei einem Pistolenduell. Spätestens nach diesem Skandal waren die Hohenzollern in Fragen der Tugendhaftigkeit keine Instanz mehr. Übrigens spielt die Affäre auch im zweiten Teil von Anna Baseners Hörspiel Die juten Sitten eine entscheidende Rolle: Hier nimmt die Karriere der späteren Bordellbesitzerin Minna ihren Anfang.

Überhaupt ist es eine Zeit enormer gesellschaftlicher Umbrüche. Die Industrialisierung nimmt an Fahrt auf und sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung, elektrisches Licht erhellt die Nacht, Autos rasen durch die Straßen. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat Berlin seine Einwohnerzahl verzehnfacht. Doch die Löhne sind niedrig, die Zugezogenen können sich kaum über Wasser halten. Als Ausweg aus der Misere bleibt für viele nur die Prostitution.

Das Menschenbild wandelt sich radikal: Darwins Evolutionstheorie kratzt an der Deutungshoheit der Kirche. Frauen erringen in dieser Zeit den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Parteimitgliedschaft und fordern immer vehementer auch das Wahlrecht. Es sei ein „nervöses Zeitalter“, konstatiert der österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing, der mit seinem Standardwerk „Psychopathia sexualis“ zum Vorreiter der modernen Sexualwissenschaft wird.

In Berlin beginnen gleich mehrere Forscher, die menschliche Sexualität im Lichte der Medizin und Biologie zu betrachten. Der Psychiater Albert Moll veröffentlicht 1897 seine „Untersuchungen über die Libido Sexualis“. Damit beeinflusst er Sigmund Freuds Arbeiten stark. Er wird später zum erbitterten Kontrahenten von Magnus Hirschfeld. Denn während Hirschfeld Homo- und Transsexualität als natürliche „Zwischenstufen“ betrachtet, glaubt Moll, dass es sich um eine pathologische Erscheinung handle, die zwar nicht bestraft, aber psychiatrisch behandelt gehört. In den folgenden Jahren wird die Rivalität zwischen den beiden Sexologen zur Feindschaft. Sie gipfelt schließlich darin, dass Moll Hirschfeld 1934 denunziert. (Nachzulesen in Volkmar Siguschs umfangreicher Geschichte der Sexualwissenschaft.)

Doch noch ist es nicht soweit. Hirschfeld macht sich als medizinischer Gutachter und Forscher einen Namen und gründet 1913 gemeinsam mit Iwan Bloch und Albert Eulenburg die „Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft“. Halb Wissenschaftler, halb Aktivist arbeitet er zu Themen wie Empfängnisverhütung, Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten und Bevölkerungspolitik. Er klärt auf und engagiert sich für eine Sexualreform.

Besonders liegen ihm all jene am Herzen, die nicht ins klassische Männlein-Weiblein-Schema passen. „Wir verstehen unter sexuellen Zwischenstufen Männer mit weiblichen und Frauen mit männlichen Einschlägen“, schreibt Hirschfeld, inspiriert von der „Urningstheorie“ des Vordenkers Karl-Heinrich Ulrichs. Zwischen „Vollweib“ und „Vollmann“ zählt er 81 solcher Zwischenstufen, die er an körperlichen Merkmalen, bestimmten Charakterzügen und sexuellen Präferenzen festmacht. Diese Eigenschaften sind für ihn angeboren, unveränderlich und vor allem: normal.

Noch im selben Jahr erweitert die Gesellschaft ihren Namen um den Zusatz „… und Eugenik“. Es ist aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen, doch es galt in wissenschaftlichen Kreisen als fortschrittlich, die menschliche Fortpflanzung zu regulieren, um „Degeneration“ zu vermeiden. Hirschfeld will dies über Aufklärung, Verhütung und Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs erreichen. Er glaubt an eine „Höherzüchtung der Menschen“ durch die Eugenik. Allerdings sieht er in der Durchmischung der „Rassen“ den Weg zum Ziel – nicht etwa in einer von den Nazis fantasierten „Rassenreinheit“.

Für sexuelle Freiheit: Helene Stöcker

Hirschfeld interessiert sich aber nicht allein für die männliche Homosexualität. Er arbeitet er auch eng mit einer der wichtigsten Vertreterinnen der Frauenbewegung zusammen: Helene Stöcker. Die Publizistin und Frauenrechtlerin hat für ihre Zeit überaus progressive Ansichten. Sie tritt dafür ein, dass Männer und Frauen ihre Sexualität auch außerhalb der Ehe frei und gleichberechtigt ausleben dürfen. Damit geht sie sogar anderen Frauenrechtlerinnen wie Helene Lange zu weit.

Radikaler Rollenwandel: Frauen in den 20er Jahren

Helene Stöcker kümmert das nicht: Mit dem von ihr gegründeten „Bund für Mutterschutz und Sexualreform“, engagiert sie sich für die Rechte unehelicher Kinder und deren Mütter. Und sie kämpft gegen einen Gesetzesentwurf, der weibliche Homosexualität unter Strafe stellen will. In Hirschfeld findet sie einen verwandten Geist; die beiden freunden sich auch privat an. 1912 wird Helene Stöcker Mitglied im Wissenschaftlich-humanitären Komitee. Ebenso wie Johanna Elberskirchen, eine weitere feministische Sexualreformerin, die als lesbische Aktivistin Pionierarbeit leistet.

Das Institut für Sexualwissenschaft

Nach dem Ersten Weltkrieg erfüllt sich Magnus Hirschfeld seinen Lebenstraum: Er eröffnet das weltweit erste "Institut für Sexualwissenschaft". Es ist eine Privateinrichtung, denn an den Universitäten will man mit dem "anrüchigen" Thema nach wie vor nichts zu tun haben. Das Institut stand einmal dort, wo heute das „Haus der Kulturen der Welt“ steht. Es unterhält die erste deutsche Eheberatungsstelle. Vor allem aber entwickelt es sich zum Zentrum der internationalen Homosexuellenbewegung. Männer, die wegen ihrer sexuellen Präferenzen strafrechtlich verfolgt werden, holen sich hier Rat und Unterstützung. Hirschfeld und seine Kollegen erstellen Gerichtsgutachten und ersparen den Angeklagten ungezählte Jahre im Zuchthaus.

Doch das politische Klima hat sich gewandelt. Die Nationalsozialisten hetzen immer aggressiver gegen Hirschfeld. Am 4. Oktober 1920 wird er in München von Rechtsradikalen niedergeschlagen, sie lassen den vermeintlich Toten auf der Straße liegen. Im Krankenhaus liest Hirschfeld seinen eigenen Nachruf in der Zeitung. Trotzdem lässt sich der Arzt nicht mundtot machen, sondern organisiert 1921 die „Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage“, an der namenhafte Sexualwissenschaftler teilnehmen.

Sex, Rausch und Verbrechen: Berlin-Krimis, die in den 20er Jahren spielen

1929 glaubt sich Hirschfeld am Ziel seiner Träume: Der Reichstag will die Abschaffung des Paragrafen 175 beschließen. Es kommt anders. Die Weltwirtschaftskrise verhindert die Abstimmung, sie wird vertagt. Als die Krise vorbei ist, sind die Nationalsozialisten an der Macht.

Vorher aber schreibt Hirschfeld zusammen mit dem Arzt Ludwig Levy-Lenz noch Medizingeschichte: Sie führen die erste geschlechtsangleichende Operation an der Dänin Lili Elbe durch. (Der 2015 verfilmte Bestseller „The Danish Girl“ erzählt die Geschichte der ersten Transsexuellen, die sich jemals einer solchen Operation unterzog.) Doch Hirschfelds Tage in Berlin sind gezählt. Von Freunden gewarnt, geht er ins Exil.

1933 muss Magnus Hirschfeld in einem Pariser Kino mitansehen, wie die Nazis sein Lebenswerk verbrennen: die Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaften. Die Blütezeit der deutschen Sexualwissenschaft – sie ist vorbei. Hirschfeld lebt noch zwei Jahre lang in Frankreich, gemeinsam mit seinem langjährigen Lebensgefährten Karl Giese und dem chinesischen Arzt Dr. Li Shiu Tong. Am 14. Mai 1935 stirbt er in Nizza.