Opulente Familiensagas, in denen Magie wie eine Urkraft waltet. Hochpolitische Schilderungen einer von Gewaltätigkeit und Korruption geprägten Gegenwart. Märchenhaft-allegorisches für Sinnsuchende: Die Literatur Lateinamerikas ist eine Schatzkiste ohne Boden. Wer mit beiden Armen hineingreift, wird üppig beschenkt.

Boom und Post-Boom: Weltliteratur aus Lateinamerika

Zwischen den Sechziger- und Achtzigerjahren blickte die Welt entsetzt nach Lateinamerika. In fast allen Ländern unterdrückten erzkonservative Diktatoren mit Hilfe des Militärs – und oft mit Unterstützung der USA – jede politische Opposition. Die unglaubliche Brutalität der Militärregimes kostete Hunderttausende das Leben – und traumatisierte die Überlebenden.

Zeitgleich feierte die lateinamerikanische Literatur ihre große Sternstunde. Mit Julio Cortázars „Rayuela“, „Das grüne Haus“ von Vargas Llosa und vor allem „Hundert Jahre Einsamkeit“ des Kolumbianers Gabriel García Márquez erschienen Mitte der Sechzigerjahre Werke von Weltrang. Kritiker feierten den „magischen Realismus“ der Romane. Formal innovativ, reich an Fabulierlust und zugleich hochpolitisch, faszinierte Literatur aus Lateinamerika ein internationales Publikum. Bald sprach man von „el boom latinoamericano“, dem „Lateinamerika-Boom“.

Hundert Jahre Einsamkeit

Gabriel García Márquez, dessen Erfolgsroman Hundert Jahre Einsamkeit als Schlüsselwerk des sogenannten magischen Realismus gilt, konnte mit diesem Etikett nichts anfangen. „Ich bin kein Phantast, sondern Realist“, sagte er einmal über sich selbst, obwohl seine Bücher – aus europäischer Sicht – vor wundersamen Ereignissen überquellen. „Ich übertrage völlig reale Situationen, die sich täglich irgendwo in Lateinamerika ereignen, in meine Dichtung und verarbeite sie.“

In seinem erfolgreichsten Roman erzählt der Nobelpreisträger über sechs Generationen hinweg vom Schicksal der Familie Buendía. Dabei spiegeln sich im Aufstieg und Niedergang des fiktiven Dorfes Macondo die Geschicke des gesamten Kontinents. Der Roman wurde hymnisch gefeiert, und gilt bis heute als eines der wichtigsten Bücher aus Lateinamerika.

Was ist magischer Realismus in der Literatur?

In literarischen Werken, die dem magischen Realismus zugeordnet werden, ist das Wunderbare normaler Bestandteil der erzählten Realität. Motive aus Volkskultur und Mythologie werden in die Handlung eingestreut und als natürlicher Teil der Lebenswirklichkeit der Protagonisten geschildert. Realismus und Phantastik stehen nicht im Konflikt zueinander, sie existieren selbstverständlich nebeneinander.

Das Geisterhaus

Waren die Autoren des lateinamerikanischen Booms ohne Ausnahme Männer, feierten ab den Achtzigerjahren auch lateinamerikanische Schriftstellerinnen große Erfolge. Allen voran die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende, Nichte zweiten Grades des chilenischen Präsidenten Salvador Allende, der beim Putsch von 1973 ums Leben kam.

Mit diesem entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Chiles und sowie ihrem eigenen Leben setzt sie sich in ihrem Debüt Das Geisterhaus auseinander. Das Buch wurde ein Weltbestseller und 1993 verfilmt. Bis heute ist es unmöglich, sich der fesselnden, farbenprächtigen Familiensaga zu entziehen. Über vier Generationen hinweg erzählt Allende darin vom Schicksal des chilenischen Patriarchen Esteban Trueba und seiner Frau Clara, die mit Geistern kommuniziert.

Violeta

Isabel Allende, die sich als Feministin versteht, stellt immer wieder eigensinnige, leidenschaftliche Frauenfiguren ins Zentrum ihrer Romane. So auch in ihrem aktuellen Roman Violeta, in dem sie die Greisin Violeta Del Valle auf ihr bewegtes Leben zurückblicken lässt. Dabei bilden die Spanische Grippe, die 1920 in Südamerika wütete, und der Ausbruch der Corona-Pandemie die zeitliche Klammer der Saga. Für ihren Briefroman griff die Autorin auf die lebhafte Korrespondenz mit ihrer eigenen Mutter zurück.

Das Flüstern der Bienen

Im Stil Isabel Allendes erzählt die mexikanische Autorin Sofía Segovia. Für ihren aktuellen Bestseller Das Flüstern der Bienen verwob sie die Geschichte Mexikos von den Zwanzigerjahren an mit dem fiktiven Schicksal des kleinen Simonopio. Der Junge – durch eine Hasenscharte entstellt – wird kurz nach seiner Geburt ausgesetzt. Ein freundlicher Großgrundbesitzer nimmt ihn in seine Familie auf und zieht ihn groß. Während die Spanische Grippe und die Landreform unzählige Opfer fordern, wächst Simonopio heran. Bald entdecken seine Zieheltern, dass der stumme Junge eine besondere Gabe hat. Doch die wird von den abergläubischen Dorfbewohnern zunehmend mit Argwohn betrachtet.

Aktuelle Literatur aus Lateinamerika: Chronisten der Gewalt

Betrachtet man zeitgenössische Literatur aus Lateinamerika, erscheint die sinnliche Opulenz in Sofía Segovias Familienroman als Ausnahme: Die meisten jungen Schriftsteller haben für magischen Realismus wenig übrig. Sie sind mit der brutalen Realität extremer Klassenunterschiede, Bandengewalt und Korruption in den riesigen Metropolen Lateinamerikas aufgewachsen – genauso hart, schnell und schonungslos erzählen sie.

Signs Preceding the End of the World

Die akribisch recherchierten Bücher der Argentinierin Leila Guerriero, der beiden Mexikaner Antonio Ortuñound Yuri Herrera oder des Reporters Óscar Martínez aus El Salvador werden „Crónicas“ genannt. Sie ähneln stilistisch den Werken des „New Journalism“ von Truman Capote oder Tom Wolfe. Viele dieser Journalisten und Autoren wurden an der von García Márquez‘ gegründeten Reporterschule Fundación Nuevo Periodismo Iberoamericano („Stiftung Neuer Iberoamerikanischer Journalismus“) in Kolumbien ausgebildet. In Deutschland finden ihre engagierten und oft bedrückenden Texte bisher nicht die große Aufmerksamkeit, die sie sicher verdienen.

Harte Jahre

Mario Vargas Llosa ist der einzige lateinamerikanische Literat der „Boom“-Zeit, der noch lebt und schreibt. Im Alter von mehr als 80 Jahren ist der peruanische Literatur-Nobelpreisträger noch immer eine der wichtigsten intellektuellen Stimme des Kontinents.

In seinem spannenden und lehrreichen Roman Harte Jahre arbeitet er die Rolle des CIA beim Sturz der Regierung von Jacobo Árbenz auf. Llosa schildert den Militärputsch in den Fünzigerjahren als Ergebnis einer Lüge, die von den USA gezielt gestreut wurde, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen in der Region zu wahren. Spannend wie ein Politthriller wird hier ein Kapitel lateinamerikanischer Geschichte verhandelt, das in Europa wenig bekannt ist.

Stadt aus der Tiefe

Junge Kulturschaffende besonders in Mexiko, Guatemala und Peru besinnen sich seit einigen Jahren stolz auf ihr indigenes Erbe. Die faszinierenden kulturellen Errungenschaften der Maya, Inka und Azteken werden wiederentdeckt und erforscht. Sie dienen als Inspiration für das eigene Schaffen.

Das aztekische Erbe Mexikos spielt die heimliche Hauptrolle im packenden Mystery-Hörspiel Stadt aus der Tiefe der mexikanischen Schriftstellerin Alma Delia Murillo. Der Archäologe Fernando Navarros sucht seine Tochter Luisa, die vor vier Jahren unter mysteriösen Umständen verschwand. Gemeinsam mit dem abgehalfterten Kommissar Gastón Ramíres folgt er ihrer Spur in die unterirdischen Ruinen des Azteken-Tempels Templo Mayor. Hier, unter dem Pflaster von Mexico City, erwacht eine unheilvolle Macht. Pía Malinalli, Expertin für aztekische Mythologie, soll helfen, das bedrohliche Rätsel zu entschlüsseln. Doch die junge Frau ist nicht die, für die sie sich ausgibt.

The Sound of Things Falling

Auffällig häufig wählt die junge Autorengeneration den Krimi als Genre, um Unrecht und extreme Klassenunterschiede in der lateinamerikanischen Gesellschaft anzuprangern. Etwa in den preisgekrönten Romanen des Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez, der als eine der wichtigsten Stimmen der lateinamerikanischen Literatur gilt. Seine präzise recherchierten Romane gibt es derzeit im spanischen Original, teilweise aber auch auf Englisch als Hörbuch. Sein Thriller The Sound of Things Falling spielt zu Beginn der Neunzigerjahre in Bogotá. Er erzählt packend vom Drogenkrieg zwischen Pablo Escobars Medellín-Kartell und den Regierungstruppen.

Die Oxford-Morde

Als Hörbuch auf Deutsch gibt es die kniffeligen Krimis des argentinischen Schriftstellers und Mathematikers Guillermo Martínez. Er ließ sich von seiner eigenen Doktorandenzeit an der Universität in Oxford zu seinem Erstling Die Oxford-Morde inspirieren. Mit Logik und Methoden, die an den ehrwürdigen Sherlock Holmes erinnern, klären Professor Arthur Seldom und sein junger argentinischer Doktorand den Mord an einer alten Dame auf. Immer wieder streut der Autor dabei mathematische und philosophische Betrachtungen in die Handlung ein. Mittlerweile gibt es den zweiten Fall mit dem blitzgescheiten Duo: „Der Fall Alice im Wunderland“.

Literarische Lebenshilfe aus Lateinamerika

Ist es Zufall oder dem Wunsch geschuldet, auch den krassesten Zumutungen des Lebens einen tieferen Sinn abzuringen? Mit Paulo Coelho und Jorge Bucay stammen zwei der erfolgreichsten Autoren spiritueller Sinnsucher-Romane aus Lateinamerika.

Der Alchimist

Mit den Büchern des Brasilianers Paulo Coelho ist es so eine Sache: Während seine Fans tiefe Einsichten für ihr Leben aus den allegorischen Geschichten des Brasilianers mitnehmen, stöhnen Kritiker, der philosophische Inhalt seiner schmalen Bücher bewege sich auf Glückskeksniveau. Unstrittig ist, dass der 1947 in Rio de Janeiro geborene Autor märchenhaft erfolgreich ist. Seine Werke wurden in 80 Sprachen übersetzt und erreichten schwindelerregende Verkaufszahlen. Der Alchimist ist sein bekanntestes Buch: Einem Traum folgend, reist ein junger andalusischer Schafhirte nach Ägypten und findet dort – nach Rückschlägen und inspirierenden Begegnungen – sein Lebensglück.

Komm, ich erzähl dir eine Geschichte

Der argentinische Psychiater Jorge Bucay hat in seiner Praxis erlebt, dass einfache Gleichnisse oft hilfreicher sind, als komplexe theoretische Erörterungen. Aus dieser Erkenntnis heraus schrieb er seinen Bestseller Komm, ich erzähl dir eine Geschichte. Darin sucht ein junger Mann in einer Lebenskrise einen Psychiater auf. Statt seine Fragen zu beantworten, erzählt „der Dicke“ seinem Klienten Märchen, sephardische Legenden, Sufi-Gleichnisse und Zen-Weisheiten. Jede Geschichte vermittelt wertvolle Denkanstöße.

Literatur aus Lateinamerika entdecken

Wer tiefer in die Literatur und Geschichte Lateinamerikas eintauchen möchte, kommt an Michi Strausfelds kenntnisreichem, dabei sehr gut lesbarem Buch „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren“ kaum vorbei. Die Berliner Lektorin und Kulturvermittlerin macht sich seit den Siebzigerjahren für die Verbreitung lateinamerikanischer Literatur in Deutschland stark. Eines der hier vorgestellten Bücher hörst du bei Audible im Probemonat kostenlos. Zusätzlich streamst du unbegrenzt Tausende von Hörbüchern, Hörspielen und Original Podcasts.