Das "Cozy"-Genre selbst ist ja nicht neu: Cozy Crime kennt jeder. Das sind Kriminalgeschichten, in denen der Spannungsfaktor klein und der Wohlfühlfaktor umso größer geschrieben wird. In beschaulichen Settings knobeln liebenswürdige Charaktere sich durch Fälle, bei denen es vorrangig nicht um Mord und Totschlag geht, sondern um eine gemütliche Atmosphäre und Figuren, die man gerne zum Tee und einem Plausch einladen würde. “Cozy”/”Cosy” kommt schließlich aus dem Englischen und bedeutet so viel wie “gemütlich”, “behaglich”. 

"Legends & Lattes" - Der Trendsetter der Cozy Fantasy

Die Fantasy-Literatur hat diesen Wohlfühl-Aspekt inzwischen auch entdeckt. So schaffte es 2022 völlig unerwartet ein zunächst selbst verlegter Kurzroman an die Spitze der amerikanischen Fantasy-Charts, der die Blut und Drama gewohnte Fantasy-Welt in Erstaunen versetzte.

In “Legends & Lattes” - (deutscher Titel: "Magie und Milchschaum") von Travis Baldree hat eine weibliche Ork-Soldatin namens Viv das Kämpfen satt, hängt ihr Schwert an den Nagel und eröffnet in einem Städtchen, wo noch niemand auch nur von Kaffeebohnen gehört hat, ein Café, um den Bewohnern mit Milchschaum, Heißgetränken und Zimtrollen eine ganz neue Magie nahe zu bringen. Viv muss dabei zwar gegen Widrigkeiten ankämpfen, und es gibt einen niedrigen, komplett vorhersagbaren Spannungsbogen, doch hauptsächlich geht es um die neuen Freunde, die Viv findet, um das herzerwärmende Miteinander, eine zarte Liebe und darum, einen friedlichen Platz im Leben zu finden, wo man hingehört und geliebt wird.

Magie und Milchschaum
Legends & Lattes

Der Handlungsfaden selbst ist dabei eher nebensächlich. Vielmehr schauen wir Viv bei Alltäglichkeiten zu: Wie sie ihr Café einrichtet, mit ihren Mitarbeitern und Kunden plaudert und Beziehungen aufbaut, wie neues Gerät für die Küche geliefert wird und im Ofen köstlich duftendes Gebäck aufgeht. “Slice-of-life”-Fantasy nennt man das daher auch: Wortwörtlich wird hier ein Stück vom ganz normalen Leben mit liebevoller Sorgfalt dargestellt. So stressfrei eben wie ein Besuch mit Freunden im Lieblingscafé.

Das Buch wurde so erfolgreich, dass es von einem Verlag aufgegriffen wurde, einen Siegeszug auf BookTok und Bookstagram antrat und von Autor Travis Baldree - der passenderweise von Haus aus Hörbuchsprecher ist - auch als englisches Hörbuch eingesprochen wurde. Für November 2023 ist mit Bookshops & Bonedust ein Prequel angekündigt.

Lesende, die nach ähnlichem Stoff suchten, wurden daraufhin vor allem im Englischen fündig bei Titeln wie A Wizard’s Guide to Defensive Baking, in der eine junge Hexe und Bäckerin den Lebkuchen zum Tanzen bringt oder bei The Very Secret Society of Irregular Witches, wo ein Mädchen mit magischen Fähigkeiten in einer geheimen Schule ein Zuhause und eine neue Familie findet. 

Vorläufer der Cozy Fantasy

Doch auch auf Deutsch gibt es noch mehr warmherzige Fantasy für Herz und Seele, und zwar, wenn man genauer hinguckt, eigentlich schon länger. Nehmen wir mal Terry Pratchett, dessen Scheibenwelt-Romane auch von deutschen Fantasy-Fans seit den 80ern als Kult gefeiert werden. Zwar geht es in der 38 Titel umfassenden Reihe auch um Satire, um Philosophisches, um liebenswürdiges Auf-die-Schippe-nehmen des Fantasy-Genres und solcher hehrer Literatur-Giganten wie William Shakespeare.

Aber auch die Scheibenwelt wird bevölkert von liebenswerten, skurrilen Figuren, verspieltem Humor und einer grundsätzlichen Warmherzigkeit, die wir in der Cozy Fantasy finden. Pratchetts Romane haben unbestreitbar komplexe Hintergründe und eine mehrdimensionale Tiefe, die “Magie und Milchschaum” abgeht - aber das Gefühl beim Lesen ist ähnlich: Man schmunzelt viel, und es tut einfach gut.

Die Farben der Magie

Mit dem englischen Autor Neil Gaiman zusammen veröffentlichte Terry Pratchett 1990 Good Omens (deutscher Buchtitel: “Ein gutes Omen”), in dem ein Engel und ein Dämon gemeinsam versuchen, die Apokalypse zu verhindern. Das ist aberwitzig, religionskritisch und hat unter dem Humor und den verrückten Ideen noch viele weitere Dimensionen. Das Herz der Geschichte bilden allerdings zwei Figuren, die keine Todfeinde mehr sein und schon gar nicht die Erde vernichten wollen, sondern einfach gemeinsam im schicken Ritz-Hotel sitzen und Kuchen essen möchten. So einfach (und so gemütlich) kann es sein. Kommt uns bekannt vor, oder?

Ein gutes Omen

Vermutlich ist es kein Zufall, dass die Amazon-Miniserie zu “Good Omens” fast dreißig Jahre später ein riesiger, globaler Erfolg wurde: Schon 2019, vor dem Ausbruch des Corona-Virus, wurde die Welt immer unberechenbarer. Von Klimawandel bis Trump, von digitaler Überforderung bis Terrorismus - wo die Realität zu viel wird, wird die Sehnsucht nach Beschaulichkeit größer. Und genau das bietet das “Cosy”-Genre eben: Kein Herzklabaster mit ständigen Cliffhangern, sondern eine zauberhafte Welt, eine warme Umarmung, eine berechenbare Geschichte und ein garantiertes Happy End.

Dass in den Corona-Jahren und mit dem Krieg in der Ukraine die Sehnsucht nach heiler Welt und damit auch die Flucht in Fantasy-Literatur nur gestiegen ist, sollte keinen mehr überraschen. Aber low key. Sachte. Aufregen muss man sich in der realen Welt schon genug. Das braucht man dann nicht auch noch, wenn man sich zur Entspannung ein Hörbuch auf die Ohren setzt.

Sci-Fi trifft Cozy Fantasy

Becky Chambers ist mit ihren von Wärme, Hoffnung und Humanismus geprägten Science-Fiction-Geschichten ein Grenzgänger des Genres. In Ihrer Wayfarers-Saga macht sich ein zusammengewürfelter Trupp aus den unterschiedlichsten Spezies in einem verbeulten Raumschiff auf eine Reise durchs All. “Der lange Weg zu einem kleinen, zornigen Planeten” ist der Auftakt einer zutiefst optimistischen Space Opera, in der es viel mehr um das Wer und Wie geht als um die Geschichte selbst. Herausgekommen ist eine Romanreihe, die einem den Glauben an die Menschheit wiedergibt - und das können wir wohl alle gebrauchen.

Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten

Gerade begeistert Becky Chambers wieder mit ihrer Monk & Robot-Reihe, zunächst einmal auf Englisch, die gerne auch dem Solarpunk-Genre zugeordnet wird. In A Psalm for the Wild-Built und A Prayer for the Crown-Shy spüren ein Tee servierender Mönch und ein in der Wildnis gebauter Roboter der Frage nach, was die Menschen brauchen und was der Sinn des Lebens ist. Unspektakulär, leise philosophisch, ökologisch, divers und lebensbejahend, strahlt die Reihe so viel Geborgenheit, Akzeptanz und einfach Sein-Dürfen aus, dass einem beim Lesen ganz schummrig wird vor guten Gefühlen.

A Psalm for the Wild-Built

Die wunderbar diversen Welten des T.J. Klune

Auf Deutsch zu haben sind zum Glück die Romane von T.J. Klune. Fast alle seine Titel passen wie Faust aufs Auge in die Cozy Fantasy: In liebevoll gezeichneten Welten bewegen sich Figuren, die man nur ins Herz schließen kann, auf ein gutes Ende zu. Beziehungen und Positivismus stehen im Mittelpunkt. Die Stories sind unterhaltsame Gerüste für die zentrale Botschaft: Du bist in Ordnung, wie du bist, und am Ende wird alles gut ausgehen. 

Geweint wird in Klunes “Mr. Parnassus’ Heim für magische Begabte” nur vor Rührung. Es ist drin, was draufsteht: Ein Jugendamtsmitarbeiter nimmt das Waisenhaus des titelgebenden Mr. Parnassus unter die Lupe. In diesem Heim finden Kinder mit besonderen Fähigkeiten einen liebevollen Platz - eins von ihnen der Sohn des Teufels. Klune beschäftigt sich in der Geschichte mit Queerness, Diversität, Rassismus und Vorurteilen, und wie durch Aufklärung und den Willen, aufeinander zuzugehen, Erstaunliches möglich ist. Wieder begegnen wir einer Familie, die sich zusammenfindet, ohne miteinander verwandt zu sein - und somit dem “found family”-Trope, das typisch für Cozy Fantasy ist.

Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte

Was kommt nach dem Tod? T.J. Klune verpackt ein schweres Thema in “Das unglaubliche Leben des Wallace Price” auf sanfte, spielerische Art. Wie oft in der Cozy Fantasy, passiert tatsächlich nicht viel an Handlung. Dafür gibt es nachdenkliche, auch humorvolle Betrachtungen über den Sinn des Lebens und sympathische Figuren, von denen man sich wünscht, es gäbe sie auch in Wirklichkeit. Für die einen ist das Kitsch, für die anderen ist das cozy. 

Das unglaubliche Leben des Wallace Price

Entzückende Charaktere, eine skurrile Patchworkfamilie und Liebe über die üblichen Normen hinweg gehören zu Klunes neuestem Roman, “Die unerhörte Reise der Familie Lawson.” Eben diese setzt sich zusammen aus Robotern, Menschen - und einem schüchternen kleinen Staubsauger. Das Hörbuch ist etwas abenteuerlicher, das Ende nicht ganz so von sprühendem Optimismus geprägt, aber allein der Charme der Figuren und das heimelige Sci-Fi-Setting sortieren die Geschichte in die Cozy Fantasy ein.

Die unerhörte Reise der Familie Lawson

Schöne Märchen für jedes Alter

Apropos Optimismus: Märchen halten sich ja auch meist an die “Und sie lebten glücklich und zufrieden…”-Regel, der Weg dorthin ist aber oft heftig und düster. In diesem all-age-Märchen scheint das zunächst auch so zu sein, denn in “Das Mädchen, das den Mond trank” geht man zunächst von der klassischen bösen Hexe aus, die Kinder tötet. Stimmt aber nicht! Das Mädchen Luna findet heraus, dass es sich mit der Hexe Xan komplett anders verhält, als man sich erzählt. Von Simon Jäger einfühlsam gesprochen, ist dieses Hörbuch ein Fantasy-Märchen für Groß und Klein, in dem alte Vorurteile hinterfragt und überwunden werden. 

Das Mädchen, das den Mond trank

Freundschaft, Optimismus, Gemütlichkeit, slice-of-life-Darstellung und unaufgeregte Geschichten mit Happy-End-Garantie - das sind also die bewährten Zutaten von Cozy Fantasy. Das hört sich nicht so an, als würde es einen beim Lesen vom Hocker reißen - und das soll es auch nicht! Aber es löst Gefühle aus, gute Gefühle, und in so eine heile Fantasy-Welt abzutauchen ist ein willkommenes Gegengewicht - sowohl zu nervenaufreibenden anderen Literaturgenres, als auch zur lauten, unberechenbaren und von Stress beherrschten Wirklichkeit.

Cozy Fantasy ist also ein Wellness-Trip zum Runterkommen und Auftanken. Und so banal das erscheint, so nötig ist das. Das zeigt der Erfolg des neuen Genres. Das mag man belächeln. Der ein oder andere dürfte jedoch überrascht feststellen, wie gut es tut, einem Ex-Ork dabei zuzusehen, wie sie köstlichen Milchkaffee und duftende Croissants serviert.