Vanessa Rodel kann sich noch genau an den Moment erinnern, der ihr Leben verändert hat. Eine Nacht im Juni 2013, vor der Tür ihrer winzigen Wohnung in Hongkong steht ein Typ in kurzen Hosen, den sie noch nie gesehen hat. „Kann ich mich bei dir verstecken?“, fragt er. Vanessa zögert nur kurz. „Es war klar, dass er jetzt Hilfe braucht. Also wollte ich helfen.“ Sie hilft, weil sie diese Situation aus ihrem eigenen Leben kennt – vor mehr als 15 Jahren ist sie von den Philippinen nach Hongkong geflüchtet. Das Foto oben zeigt Vanessa Mae Rodel mit ihrer Tochter Keana.

Unglaubliche Hilfsbereitschaft

Erst am nächsten Tag erfährt sie bei einem Blick in die Zeitung, wer ihr neuer Mitbewohner ist: Edward Snowden. Vor ein paar Tagen hat er in einem Interview mit dem Guardian die Welt wissen lassen, in welchem Umfang der US-Geheimdienst und andere die Menschen ausspionieren. Sein Gesicht ist gerade auf jeder Titelseite zu sehen. Behörden jagen ihn. Und er ist hier bei Vanessa untergekommen, weil es „der letzte Ort wäre, an dem man nach ihm suchen würde“, erzählt der Snowden-Anwalt Robert Tibbo. Es war seine Idee, Snowden bei Flüchtlingen zu verstecken – bei den Ärmsten der Armen.

Der kanadische Anwalt hat schon viele Flüchtlinge bei ihrem Asylverfahren unterstützt, und er weiß: Er kann sich auf sie verlassen. „Die Flüchtlings-Community hat ein ganz besonderes Unterstützer-Netzwerk. Denn wenn jemand sein Heimatland aus Angst, um das eigene Leben verlässt, dann braucht man immer jemanden, der einem hier hilft.“

Das Schicksal der Snowden-Unterstützer

In unserem Audible Original Podcast „Der Moment“ haben wir im Mai über die Situation der sieben Flüchtlinge in Hongkong berichtet.

Der Moment Folge 16: Und dann steht er vor deiner Tür

Snowden bleibt nicht nur bei Vanessa und ihrer kleinen Tochter, auch andere Flüchtlinge lassen ihn bei sich wohnen. Nadeeka und Supun, eine Familie aus Sri Lanka, und Ajith, ebenfalls aus Sri Lanka. Was alle gemeinsam haben: Sie sind vor Misshandlungen, Folter und Vergewaltigungen geflohen. Sie sind mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Hongkong gekommen.

Asylantrag abgelehnt – jetzt droht ihnen die Abschiebung

Doch jetzt brauchen Vanessa Rodel und die anderen Flüchtlinge, denen Medien den Namen „Snowden’s Guardian Angels“ gegeben haben, selbst Hilfe: Nachdem bekannt wurde, dass sie Edward Snowden geholfen hatten, erhöhte die Regierung in Hongkong den Druck auf die jungen Familien – ihre Sozial-Leistungen wurden gestrichen, ihre Asylanträge abgelehnt.

Derzeit wird vor Gericht in Hongkong die Abschiebung von Ajith verhandelt. Als junger Mann flüchtete er von der Armee, nachdem er dort vergewaltigt wurde. Ärzte haben bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, er fürchtet um sein Leben. „Ich weiß es. Wenn ich zurück nach Sri Lanka muss, wird die Folter wieder losgehen.“
Der Anwalt Robert Tibbo rechnet mit einer Entscheidung in Ajiths Verfahren in den nächsten Wochen. Sollte Ajith und die anderen Flüchtlinge abgeschoben werden, geht er davon aus, dass sie bereits bei ihrer Rückkehr am Flughafen verhaftet werden. „Die Gefahr, dass sie gequält und getötet werden, ist real.“

Letzte Hoffnung Kanada

Die Hoffnung des Anwaltsteams liegt momentan darin, dass die Snowden-Flüchtlinge in Kanada Asyl erhalten, noch bevor sie aus Hongkong abgeschoben werden. Die Anträge dazu sind bereits gemacht, es ist ein Rennen mit der Zeit.

„Es geht hier darum, das Leben von Menschen zu retten. Habt keine Angst, zu helfen, denn wenn wir zu lange warten, dann werden wir uns irgendwann fragen, warum wir nicht mehr getan haben“, erklärt Edward Snowden kürzlich in einem Statement auf Twitter.

Immer mehr prominente Unterstützer

Die Organisation Human Rights Watch hat sich mit einem dringenden Appell an die kanadische Regierung gewandt, den Flüchtlingen zu helfen. Auch der Filmemacher Oliver Stone erklärt: „Kanada könnte in diesen unsicheren Zeiten ein Leuchtturm der Hoffnung sein“, und sogar die Schauspielerin Pamela Anderson schreibt in einem Tweet an Kanadas Premierminister Justin Trudeau: „Bitte gewähren sie diesen mutigen Familien Asyl!“
Das Ministerium für Einwanderung in Kanada hält sich bislang jedoch bedeckt. Auf eine Anfrage des Guardian heißt es, man könne aus Datenschutzgründen keine Auskunft geben.

Können die Flüchtlinge gerettet werden?

Für Vanessa und die anderen Flüchtlinge ist Kanda die letzte Hoffnung. „Der größte Traum meiner Tochter ist es nach Kanada zu gehen“, erzählt Vanessa. Sie hat ihrer Tochter versprochen, dass sie niemals aufgeben und alles dafür tun wird, „dass wir alle einmal in Sicherheit leben können.“

Um das Überleben der Flüchtlinge zu sichern, sammelt die Organisation „For the refugees“ weiter Spenden, mehr Infos dazu unter https://fortherefugees.com/.

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