In den aktuellen Titeln geht es nicht mehr nur um die Spionage und Stasi, sondern zunehmend um den schizophrenen Alltag in einer fremdgesteuerten Diktatur, um die Absurditäten des „real existierenden Sozialismus“ und darum, die die Welt hinterm Eisernen Vorhang auch aus Perspektive von Mystery und Fantasy zu imaginieren. Wir sprachen mit dem Historiker Dr. Stefan Wolle vom DDR-Museum in Berlin übers boomende Interesse an der ostdeutschen Vergangenheit.

Die DDR als Spielweise für Thriller-Autoren? Als Setting für ein düsteres Drama in einem „hübsch-hässlichen“ Kaff in Thüringen, wohin eine Frau 1993 aus dem Westen zurückkehrt, um ihre Mutter zu beerdigen? Dabei stellt sie fest, dass in dem Dorf ihrer Kindheit seltsame Dinge geschehen und plötzlich Leichen auftauchen von Menschen, die niemand zu kennen scheint. Außerdem gibt’s einem Berg, der wie ein „Scheißhaufen“ in den Himmel ragt, mit Antennen auf dem Gipfel. Laut Auskunft einer Betrunkenen „frisst“ dieser Berg Menschen.

Wie sich herausstellt, war im Innern ein russischer Stützpunkt, in dem Telepathie-Experimente durchgeführt und zu DDR-Zeiten Gefangene schockgefroren wurden, mit dem Ziel, eine Methode zu finden, sie später erfolgreich wieder aufzutauen. Woraus aber wegen des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus nichts wurde, so dass nach der Wende immer wieder Leichen „ausgespuckt“ werden. Während eine mysteriöse russische Forscherin umhergeistert und verhindern will, dass die Geheimnisse des Bergs offenbar werden.

Das klingt nach spannender SciFi gemischt mit einer starken Prise Mystery. Es ist der Inhalt der ersten Staffel von „Der schwarze Berg“, verfasst von den Drehbuchautoren Kaspar Dornfeld und László I. Kish als Audible Original Hörspiel mit Carolin Kebekus, die der heimkehrenden Frau aus dem Westen ihre Stimme leiht.

Der Schwarze Berg

Dornfold, der selbst aus Thüringen stammt, und Kish, dessen Familie aus Ungarn kommt, stellen damit einen weiteren Titel vor, der sich 30 Jahre nach dem Fall der Mauer mit der DDR-Vergangenheit und dem Leben hinterm Eisernen Vorhang auseinandersetzt, Republikflucht und sowjetische Besetzung thematisiert, Angst vor den Geheimdiensten und das Doppelleben der Bürger in einem Dorf. „Der schwarze Berg“ versucht, eine solche zwiespältige Vergangenheit für die Gegenwart interessant zu machen. Als Teil einer ganzen Welle von neueren Büchern, Hörbüchern, Fernsehserien und Kinofilmen, die sich mit dem Leben damals beschäftigen und fragen: Wie war es wirklich und wie fühlte es sich an, in solch einem System zu (über-)leben?

Rot macht tot

Um das zu klären, kamen wir auch die Idee, den Inhalt von „Der schwarze Berg“ und diversen anderen in der DDR spielenden Geschichten einmal einem Reality Check zu unterziehen und zu fragen, inwieweit die geschilderten Begebenheiten sich mit tatsächlichen Verhältnissen abgleichen lassen. Und wer könnte darüber besser Auskunft geben als der Historiker Dr. Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin-Mitte und Kurator der dortigen Dauerausstellung. Er ist ferner Autor von Reihen wie „Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR“ und von Publikationen wie „Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte“.

Das DDR-Museum wurde 2006 eröffnet und befindet sich schräg gegenüber vom ehemaligen Palast der Republik. Also dort, wo heute das neue Stadtschloss bzw. Humboldt Forum steht, geschmückt mit den berühmten Lampen und allen möglichen Retro-Elementen aus dem Palast, die darauf hindeuten, dass einiges an der DDR inzwischen durchaus als „cool“ wahrgenommen wird.

Die Republik

Wir treffen Dr. Wolle am Eingang seines Museums, vor dem sich schon mittags Schlagen gebildet haben. Vor Corona waren es im Schnitt 2.500 Besucher am Tag, was bei einem so kleinen Privatmuseum beachtlich ist. Und darauf hindeutet, dass das Interesse bei Berlin-Besuchern enorm ist. „Wir sind heute im Museum mit Nachgeborenen konfrontiert“, sagt Wolle.

„Als wir 2006 angefangen haben, dominierten noch DDR-Zeitgenossen als Besucher und entsprechend Debatten, die sehr emotional über pro und contra DDR geführt wurden, darüber, wie das Leben damals war, wie weit man sich ans System anpassen musste und so weiter. Das waren alles typischen Diskussionen einer ‚Erlebnisgeneration‘.“

Das siebte Kreuz

Doch die Zahl derer, die selbst die DDR „erlebt“ haben, nimmt ständig ab. „Wir haben in den letzten Jahren immer mehr junge Leute hier, Schulklassen, Einzelbesucher, Familien. Unser Publikum wird immer jünger“, so Wolle. Und auch die Leser von Büchern über die DDR werden jünger. Es geht nicht mehr um Ostalgie, wie in den 1990ern, sondern um eine Entdeckungsreise in eine fremde Welt.

Krokodil im Nacken. Eine Jugend in der DDR und die Geschichte einer Flucht

Wer da etwas entdecken will, darüber sagt schon die Zusammensetzung der Museumsbesucher etwas. „Hierher kommt ein internationaler Haufen“, meint Wolle. „Ungefähr ein Drittel unserer Besucher sind aus dem Ausland, da sind Frankreich, Italien, Spanien und Skandinavien führend. Großes Interesse – aus ganz anderen Gründen – besteht auch bei Besuchern aus Taiwan und Südkorea. Die wollen wissen, was Kommunismus beziehungsweise Sozialismus damals bedeutet.“

Viele Ausländer hätten nur eine vage Vorstellung von der DDR, meint Dr. Wolle. Das gelte aber auch für deutsche Jugendliche. „Junge Leute sind sehr an Zeitgeschichte interessiert“, so Wolle, „obwohl sie in der Schule immer weniger zu Geschichte lernen, befriedigen die meisten ihren Wissensbedarf übers Internet, Fernsehen, Filme, Rundfunk, Bücher … oder eben Museen.“

Goodbye DDR

Die DDR-Alltagswelt, die ihnen im Museum in Berlin-Mitte mit nachgebauten Wohnzimmern und unendlich vielen Gegenständen begegnet, ist vielen zwar fremd. Aber sie sagen oft: „Bei meiner Oma sah es genauso aus!“ Abgesehen von Design-Aspekten, interessiere die meisten Besucher, wie das politische System im Osten Deutschlands funktionierte: was „Freiheit“ bedeutete! Weil sie im eigenen Leben mit den Repressionen von damals nicht mehr konfrontiert sind, diese aber in den Nachrichten aus Weißrussland oder Nordkorea fast täglich zu sehen bekommen.

„Vor 20 Jahren wären Fragen nach der Stellung der Frauen und Homosexualität in der DDR eher abwegig erschienen, jetzt werden sie viel mehr gestellt“

Dr. Stefan Wolle

Außerdem interessieren sich junge Besucher zunehmend für private Aspekte, die Dr. Wolle und sein Team bei Eröffnung des Museums nicht so im Auge hatten: zum Beispiel die Stellung der Frauen, Homosexualität in der DDR und ähnliches. „Vor 20 Jahren wären solche Fragen eher abwegig erschienen, jetzt werden sie viel mehr gestellt.“

Das Leben in der DDR

Und dann ist da natürlich das Stasi-Thema, das seit 1990 ungebrochen populär ist: „Das ist ein Jahrhundertthema, und das wird auch noch in 100 Jahren interessant sein“, meint Dr. Wolle. Von allen Stationen im Museum seien deshalb die nachgebaute Abhörzentrale sowie die Stasi-Gefängniszelle das, was Besucher am meisten fotografierten und genauer unter die Lupe nehmen würden.

Spione im Zentrum der Macht

Dr. Wolle kennt selbstverständlich viele der Romane und Filme über die DDR. Sein eigener Lieblingsfilm sei „Goodbye Lenin“, sagt er, weil er die DDR-Atmosphäre und Stimmung so wunderbar treffe. Aber auch der Roman „Zeiten des abnehmenden Lichtes“ von Eugen Ruge fange diese Atmosphäre des Untergangs perfekt ein.

In Zeiten des abnehmenden Lichts

Der Historiker konstatiert, dass trotz aller Untergangsszenarien „ein großer Teil der schöngeistigen Literatur über die DDR ironischer Art“ sei und die DDR „mehr oder weniger durch den Kakao“ ziehe. Das sei von Anfang an typisch gewesen als Reaktion auf die DDR. „Die DDR hinterlässt ein Gefühl von Absurdität.“ Das Land sei „ein Absurdistan“ gewesen.

DDR für Dummies

Ein "Absurdistan des Terrors", weswegen es genauso viele Bücher gibt, die sich dem Thema DDR und Stasi auf der Ebene des Thrillers nähern. „Es überwiegen dabei die literarischen Erzeugnisse, die das Seelenleben in den Mittelpunkt rücken, die Aufarbeitung von Erinnerungen und die Traumatisierung der Menschen“, so Dr. Wolle.

Wendemanöver - Die geheimen Wege zur Wiedervereinigung

Um die Aufarbeitung von traumatisierenden Erinnerungen geht es auch in „Der schwarze Berg“. Dass solch ein Hörbuch von einem deutsch-ungarischen Autorenteam ausgerechnet jetzt herauskommt, nennt Dr. Wolle „eher neu“ und vermutet, dies sei „ein bisschen von der angelsächsischen Welt“ beeinflusst. Denn die hatte die DDR schon lange vorm Fall der Mauer als Paradies für Thriller-Autoren entdeckt. „Speziell in Berlin stießen seit 1948 die Fronten des Kalten Krieges aufeinander“, erklärt Dr. Wolle. „Trotzdem gab’s eine offene Grenze, die Spione jeglicher Art überschreiten konnten. Man spricht davon, dass Berlin die Welthauptstadt der Spionage war: Man konnte nahezu unbeobachtet von Ost nach West und von West nach Ost kommen, zumindest bis 1961. Später war es auch noch möglich, nicht mehr ganz unbeobachtet, aber trotzdem. Die Vier-Sektorenstadt Berlin war der neuralgische Punkt der Konfrontation.“

Die Spionin

Es ist der Schauplatz von „Der Spion, der aus der Kälte kam“, mit dem John LeCarré 1963 der internationale Durchbruch als Bestseller-Autor gelang. Es folgten viele ähnliche Bücher, etliche wurden zu Kinofilmen. Eine Erfolgswelle, die mit „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck 2006 einen neuen Höhepunkt erreichte und neue Nachahmer inspirierte.

„Ich habe den Eindruck, dass die DDR und das segensreiche Wirken der Staatssicherheit in der angelsächsischen Welt ein ausgesprochenes Modethema geworden sind, nicht zuletzt durch ‚Das Leben der Anderen‘. Der lief mit großem Erfolg international und auch in den USA. Was für einen ausländischen Film selten ist“, sagt Dr. Wolle. „Wobei die amerikanischen Zuschauer dabei stark ihre eigene Auseinandersetzung mit den eigenen Geheimdiensten reflektieren konnten.“

Der Spion, der aus der Kälte kam

Durch „Das Leben der Anderen“ sei speziell das Stasi-Thema nochmal „mächtig hochgekocht“, weil man drumherum spannende menschliche Geschichten entwickeln könne, die teilweise dokumentarisch sind. Zum Teil aber auch völlig frei erfunden. „Dass es solche literarischen Freiheiten gibt, darüber bin ich froh“, meint Wolle. „Da soll sich auch kein Historiker beschweren und sagen, es sei alles ganz anders gewesen. Solche superklugen Leute gibt’s immer, die auf alles hinweisen, was angeblich anders gewesen sei.“

The Stasi Game

„Die Freiheit der Literatur sollte keine Grenzen kennen“, mahnt Dr. Wolle. „Die Zeiten haben wir hinter uns gelassen, wo jemand sagte, dass dürft ihr und das dürft ihr nicht! Es gibt Historiker, denen solche Romane sehr suspekt sind. Ich gehöre nicht dazu. Ein Thriller soll vor allen Dingen spannend sein. Ob er dann zusätzlich etwas transportiert an historischer Kenntnis und Analyse, das ist den Autoren freigestellt. Es gibt Autoren, die das tun, also historische Romane, von denen man sehr viel lernen kann über Geschichte. Andere Bücher nähern sich eher der Fantasy-Literatur, was auch viele gern lesen. Insofern ist das genauso legitim.“

„Es gibt Historiker, denen solche Romane suspekt sind. Ich gehöre nicht dazu. Ein Thriller soll vor allen Dingen spannend sein!“

Dr. Stefan Wolle

Sie sprechen mit der Stasi

Was das Stichwort liefert, um genauer auf den Inhalt von „Der schwarze Berg“ zu blicken. Ist es denkbar, dass in einem Dorf in Thüringen russische Forscher Menschenversuche durchführen? Darauf antwortet Dr. Wolle klar: „Warum hätte die Sowjetarmee das in der DDR machen sollen? Wenn sie Menschenversuche gemacht hätten, dann hätten sie das eher bei sich zuhause getan, im Ural oder im fernen Sibirien. In der DDR sind derartige Fälle nicht bekannt. Das ist reine dichterische Fantasie und als solche vollkommen legitim. Ein Dichter kann sich ausdenken, was er will.“

Dass Menschen in der DDR einfach so verschwinden, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, wäre auch eher ungewöhnlich. „Wohin hätten die verschwinden sollen“, fragt Wolle. „Gerade in der DDR ist es sehr schwierig gewesen, einfach so zu verschwinden. Das ist in einer freien und offenen Gesellschaft möglich, wo man ohne größere Kontrollen ins Ausland fahren und sich absetzen kann in Länder, wo man es mit Ausweisen und derartigen Dingen nicht so genau nimmt – sagen wir mal in Südamerika. Aber für die DDR wäre die Vorstellung absurd, dass da einfach jemand verschwindet. Es sei denn, er ist in den Westen abgehauen. Das war auch eine Form des Verschwindens. Und solche Fälle gab es schon, dass jemandem die Flucht gelang, ohne dass die Staatsmacht das bemerkte.“

Ich musste raus. Wege aus der DDR

In „Der schwarze Berg“ ist lange nicht klar, wie die Hauptfigur Caroline Jaspers als kleines Kind aus dem Osten in den Westen gekommen ist und was das mit Fluchtversuchen ihrer zurückgebliebenen Mutter zu tun hat, die jahrelang im DDR-Gefängnis saß. „Dass Kinder ihren Eltern weggenommen wurden, das ist gelegentlich behauptet worden, aber nur in dem Fall, wenn die Kinder zurückgelassen wurden in der DDR“, erklärt Dr. Wolle. „Die sind dann entweder zu Verwandten gekommen. Oder sie sind später – als das möglich war – in den Westen zu ihren Eltern überführt worden. Dass sie direkt umerzogen wurden oder in Lager gekommen wären, beziehungsweise in spezielle Kinderheime, das war nur der äußerste Notfall. Das hätte die DDR auch nicht befördert, weil die Plätze in solchen Kinderheimen knapp waren.“ Seit 1971 hat die DDR zunehmend internationale Abkommen unterschrieben, unter anderem über Familienzusammenführung. Die Parteiführung hat auch Rücksicht genommen auf die Resonanz im Westen, „da man keine schlechte Presse haben wollte; vor allem aus ökonomischen Gründen, wurden Familienzusammenführungen oft genehmigt“.

In „Der schwarze Berg“ gehen die Autoren einen anderen – genau umgekehrten – Weg: das Kind wird ohne die Eltern in den Westen gebracht.

Rotz und Wasser

Wie sich herausstellt, waren in dem kleinen Dorf Riebenau an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern russische Forscher aktiv, als Teil der Besatzungstruppen. Die in der DDR omnipräsent waren. „Es gab überall die sowjetischen Kasernen“, sagt Dr. Wolle, „die Soldaten der Roten Armee waren unterwegs im Lande mit ihren Militärfahrzeugen, die Offiziere der Sowjetarmee waren im Alltag sichtbar. Sie hatten auch ihre Familien mit in der DDR, die gingen natürlich einkaufen und bewegten sich frei im Alltag.“

„Allerdings waren die Kontakte – trotz aller Bekundungen zur deutsch-sowjetischen Freundschaft – eher restriktiv“

Dr. Stefan Wolle

Das heißt, man traf russische Offiziere und ihre Familien in der Kaufhalle oder auf der Straße beziehungsweise im Restaurant. „Allerdings waren die Kontakte zu diesen Truppenteilen – trotz aller Bekundungen zur deutsch-sowjetischen Freundschaft – eher restriktiv, sowohl von Seiten der sowjetischen Militärführung als auch von DDR-Seite hatte man kein großartiges Interesse, dass es Kontakte mit der Bevölkerung gibt.“

Am kürzeren Ende der Sonnenallee

„Was sich hinter den Kasernenmauern abspielte, davon sah man wenig“, erklärt Dr. Wolle. Das blieb geheim. Genau wie das, was sich in der KGB-Zentrale in Karlshorst abspielte, wo das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) saß. „Das war die größte Auslandszentrale des KGB“, sagt Dr. Wolle. „Die waren nicht nur in Karlshorst, sondern überall. Die DDR war kein souveräner Staat. Der KGB fuhr hin, wo er wollte.“ Man unterhielt engste Kontakte mit dem MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit. „Aber die haben keine Menschenversuche gemacht. Ich möchte nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass so etwas nicht in der UdSSR selbst passierte, da ist schließlich alles passiert. Aber warum hätten sie das in Deutschland machen sollen? Das ist als Gedanke etwas abwegig, wenn man über historische Realitäten spricht. Wenn man über Literatur spricht, kann man sich natürlich alles ausdenken.“ Zudem ist es das Wesen von Mystery-Romanen, sich so etwas auszudenken als packendes Gedankenexperiment!

DDR: Wissen was stimmt

Während deutsche Autoren sich so etwas inzwischen gern „ausdenken“ und dabei nach der Mitverantwortung der hiesigen Bevölkerung fragen – in „Der schwarze Berg“ wird detailliert das komplette Dorf mit all seinen Bewohnern vorgestellt –, betrachten manche Osteuropäer in offiziellen Positionen die Situation anders. Sie würden die eigene Vergangenheit hinterm Eisernen Vorhang fast ausschließlich aus der Perspektive der Unterdrückung durch die Russen, meint Dr. Wolle. „Wenn man in Polen, Tschechien oder Ungarn in Geschichtsmuseen geht, hat man fast nur Ausstellungen, die an den Horror der Stalin-Zeit erinnern, an Deportationen, an den Terror des KGB. Die Beschäftigung mit dem Alltag – wie wir das inzwischen zur DDR kennen – ist da noch nicht richtig durchgekommen. Dass man das komplexe gesamte Leben darstellt, das ist ein deutsches Spezifikum.“

Wenn man die Situation zugespitzt formulieren wolle, könnte man den Eindruck bekommen, im ehemaligen Ostblock habe es nur die bösen Kommunisten gegeben: „Die kamen wie die Aliens übers Land und haben alles kaputt gemacht“, so Dr. Wolle. „Irgendwann sind sie dann verschwunden, und seither wollte keiner mehr etwas mit ihnen zu tun haben. Das ist vereinfacht gesagt das weit verbreitete offizielle osteuropäische Geschichtsbild.“

Es ist jedoch nicht unbedingt das „inoffizielle“ Geschichtsbild vieler Autoren aus osteuropäischen Ländern, man denke an Attila Bartis und seinen Roman „Das Ende“ übers Leben in einer ungarischen Kleinstadt in den 1950er-Jahren oder an Ferenc Barnas‘ Roman „Der Neunte“ über die 60er-Jahre und Ungarn während der Kádár-Ära.

Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens

Das offizielle Geschichtsbild wird in „Der schwarze Berg“ subtil-ironisch gebrochen, weil solch ein Geschichtsbild im wiedervereinigten Deutschland inzwischen deutlich nuancierter ausgearbeitet wird. Und viele Herangehensweisen zulässt: Mystery und Thriller sind dabei genau möglich wie Romance und Dokumentation. Und Satire, wie der Erfolg des Amazon-Prime-Serienhits „Deutschland 83-89“ belegt, mit Anke Engelke als eiskalt kalkulierender MfS-Mitarbeiterin.

Raumfahrer

Dass in „Der schwarze Berg“ ebenfalls eine ausgewiesene Komikerin wie Carolin Kebekus die Hauptrolle übernommen hat und in diesem Absurdistan zwischen Schrecken und unterschwelliger Satire brillant changiert, ist sicher kein Zufall. Es gibt Staffel 1 von „Der schwarze Berg“ einen besonderen Stempel. Man darf gespannt sei, was in Staffel 2 passiert.

AlphaPussy

Fotos Galerie: Léonie Leclaire