Doktor Schiwago Roman

Wir schreiben das Jahr 1956. Boris Pasternak steckt in der Zwickmühle. Nach zehn mühevollen Jahren hat der berühmte russische Lyriker und Übersetzer sein „entscheidendstes, wichtigstes“ Werk vollendet: den Roman „Doktor Schiwago“. Er schickt das Manuskript an die Redaktion der Literaturzeitschrift Nowy Mir. Doch den Genossen passt der „pathologische Individualismus“ des Werkes nicht. Der Roman stelle die Oktoberrevolution zu negativ dar. Obwohl Chruschtschow gerade eine Phase des Tauwetters eingeläutet hat, ist an eine Publikation in der Sowjetunion nicht zu denken. Was nun?

Wenig später taucht ein Italiener am Gartenzaun von Pasternaks Datscha auf. Es ist der Literaturagent und Kommunist Sergio D’Angelo. Er ist im Auftrag des zwei Jahre zuvor gegründeten Feltrinelli-Verlages auf der Suche nach Werken russischer Autoren. Ohne lange zu überlegen, überreicht Pasternak dem Unbekannten sein in Zeitungspapier gewickeltes Manuskript. „Hiermit sind Sie zu meiner Hinrichtung eingeladen“, verabschiedet sich der alternde Dichter. Es ist kein Scherz: Pasternak hat die stalinistischen Säuberungen miterlebt; viele seiner Kollegen wurden ermordet oder verschwanden in Arbeitslagern. Überlebt hat Pasternak wohl nur, weil Stalin – selbst Georgier – Pasternaks Übersetzungen georgischer Dichter so schätzte.

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Giangiacomo Feltrinelli: Der schillerndste Verleger des 20. Jahrhunderts

Das Manuskript landet eine Woche später in den Händen des Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Ein Glücksfall. Denn dieser Feltrinelli ist ein ganz und gar ungewöhnlicher und vor allem furchtloser Mann. Geboren als ältestes Kind einer der reichsten Familien Italiens wächst Giangiacomo in märchenhaftem Luxus, aber lieblos und isoliert von Gleichaltrigen auf. Als der hochintelligente Junge acht Jahre alt ist, stirbt sein Vater, möglicherweise durch Selbstmord. Gouvernanten übernehmen seine Erziehung. Er wird oft streng bestraft. Eine Begegnung mit Bauarbeitern öffnet dem Jugendlichen die Augen für die soziale Ungerechtigkeit der Gesellschaft. Er wird Kommunist. Kaum volljährig, nutzt der millionenschwere Erbe sein Vermögen, um ein Archiv der Arbeiterbewegung zusammenzutragen und die kommunistische Partei großzügig zu unterstützen. Mit 28 Jahren gründet er den Feltrinelli-Verlag, bis heute der größte familiengeführte Verlag Italiens.

Der Roman „Doktor Schwiago“ wird Feltrinellis erster und größter literarischer Coup. Dabei versucht die Sowjetunion noch, die Veröffentlichung zu stoppen. Alexej Surkow, erster Sekretär des sowjetischen Schriftstellerverbandes, reist zu Feltrinelli. „Sein russisches Gebrüll“, schreiben die Autoren Peter Finn und Petra Couvée später in einem Buch über die Affäre, „war bis auf die Straße zu hören“.

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Feltrinelli im Kreuzfeuer der Geheimdienste

Umsonst. Feltrinelli lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern. Er bringt das Buch heraus – und landet einen Welterfolg. Wenig später liegt eine französische und eine englische Ausgabe vor. Albert Camus, gerade mit dem Literaturnobelpreis geehrt, schlägt Pastnernak für den wichtigsten Literaturpreis der Welt vor. Bewundernde Briefe aus aller Welt trudeln in Pasternaks Datscha ein. Feltrinelli fliegt derweil aus der kommunistischen Partei. Ein Kommunist, der sich mit der Sowjetunion anlegt? Das konnte die italienische Linke ihm nicht verzeihen, Millionenerbe hin oder her.

Pasternak ist nicht der einzige, der allen Grund hat, zufrieden zu sein. Auch die CIA ist auf den Roman aufmerksam geworden. Der noch junge Geheimdienst entdeckt in dieser Zeit etwas, das man „literarische Kriegsführung“ nennen könnte. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Bücher politische Umstürze anzetteln können. (Facebook, Twitter und Fakenews gab es ja noch nicht.) Der CIA-Agent John Maury jedenfalls befindet, Doktor Schiwago sei das „ketzerischste literarische Werk eines sowjetischen Autors seit Stalins Tod“. Anders gesagt: Die Amerikaner können ihr Glück kaum fassen. Nun müssen sie nur noch dafür sorgen, dass die Russen das Buch auch lesen können.

Wie sieht die Arbeit von Agenten heute aus? Der Bundesnachrichtendienst klärt auf.

Doktor Schiwago

Die CIA ebnet den Weg zum Nobelpreis

In einer abenteuerlichen Aktion stiehlt ein (amerikanischer oder holländischer) Geheimagent im Herbst 1956 ein handschriftliches russisches Manuskript, welches Feltrinelli per Flugzeug an seinen Übersetzer nach Rom schicken will. Kurz darauf veröffentlicht der holländische Verlag Mouton die erste russische Ausgabe von Dr. Schiwago. Sie ist voller Druckfehler und heute ein begehrtes Sammlerstück. Damit auch das sowjetische Volk in den Genuss der Lektüre kommt, liegt das Buch zwei Jahre später auch auf der Weltausstellung in Brüssel aus. Von dort aus schmuggeln es russische Besucher in ihre Heimat. Mission erfüllt.

Jetzt fehlt nur noch der Nobelpreis. Mit der russischen Veröffentlichung ist das letzte Hindernis auf dem Weg dorthin getilgt, denn die Publikation in der Landessprache ist Voraussetzung. Tatsächlich spricht die Jury Pasternak den Preis zu. Der kann sich nicht lange über die Ehrung freuen. Die Partei startet eine Hetzkampagne gegen ihn. Er wird als „Schwein“, „Verräter“ und „räudiges Schaf“ beschimpft. Alle Zeitungen, alle Radiosender Russlands sind sich einig: Doktor Schiwago sei "literarisches Unkraut", "Geschmiere". Pasternak droht die Ausweisung. Der Autor, schon damals schwer krank, bricht zusammen. Erst denkt er an Selbstmord. Dann lehnt er den Nobelpreis ab.

Nicht mal zwei Jahre später stirbt Boris Pasternak einsam und geächtet an einem Herzinfarkt. Den Preis für seinen Ruhm im Ausland zahlt seine langjährige Geliebte Olga Iwinskaja. Die sowjetische Regierung steckt sie nach Pasternaks Tod (zum zweiten Mal) in ein Arbeitslager. Ihr Verbrechen? Sie hatte Pasternak zu seiner Romanheldin Lara inspiriert. Die Geschehnisse aus Olgas Perspektive hat die Amerikanerin Lara Prescott gerade zu einem fulminanten Roman verarbeitet.

Vom Verleger zum Terrorist – Feltrinelli im Untergrund

Und Feltrinelli? Dem gelingt in den folgenden Jahren eine aufsehenerregende Veröffentlichung nach der anderen: „Der Leopoard“ von Giuseppe di Lampedusa, Henry Millers Werke, das Bolivianische Tagebuch von Che Guevara, Gabriel García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“… In Feltrinellis Villa geben sich die Großen der linken (Literatur)Szene die Klinke in die Hand. Der Verleger und seine dritte Frau, die deutsche Fotografin Inge Schönthal, bilden ein strahlendes Doppelgestirn, um das sich die europäische Intelligenzia der 60er Jahre schart.

Doch Feltrinelli radikalisiert sich zusehends. Er hat Angst vor einem faschistischen Umsturz, will nicht mehr mit Büchern die Welt verändern, sondern handeln. Er geht in den politischen Untergrund und gründet eine radikale Gruppe, die ihre politischen Ziele notfalls mit Gewalt verfolgt. 1972 wird sein Leichnam unter einem Hochspannungsmast bei Mailand gefunden. Offizielle Todesursache: ein selbstverschuldeter Unfall. Feltrinelli habe den Mast sprengen wollen und die Bombe zu früh gezündet. Seine Frau Inge glaubte nie an diese offizielle Version. Ein furchtloser, bestens verknüpfter, stinkreicher Terrorist wie Feltrinelli – und dann ein Unfall? Tatsächlich gab die CIA 2014 Dokumente frei, die nahelegen, dass Feltrinelli ermordet wurde.

Heute führt Feltrinellis einziger Sohn Carlo das renommierte Verlagshaus weiter, zu dem auch rund hundert Buchhandlungen gehören. Seinem furchtlosen, schillernden, radikalen und visionären Vater hat er mit der Biographie „Senior Service“ ein Denkmal gesetzt.

Der Leopard
Stille Tage in Clichy
Hundert Jahre Einsamkeit

Lara Prescotts Debüt-Erfolg

Neben der Buchausgabe, erscheint der Roman auch als Hörbuch. Das wurde im Berliner Hörspielstudio in Kreuzberg aufgenommen. Lara Prescotts Debütroman, erschienen im Aufbau Verlag, ist gerade dabei, ein Weltbestseller zu werden.

Mehr dazu im Artikel: Große Gefühle: „Alles, was wir sind

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