So beliebt sie bei der Hörerschaft heute auch sein mag - Der Herr der Ringe und Game of Thrones begeistern ein Millionenpublikum. Fantasy hatte – und hat – es nicht immer leicht. Als zu trivial wird sie angesehen, als Mittel zur Weltflucht. Dabei erklärte es doch bereits vor langer Zeit der englische Schriftsteller G. K. Chesterton so schön:

„Märchen erzählen Kindern nicht, dass Drachen existieren. (... Sie) zeigen den Kindern, dass Drachen getötet werden können.“

Phantastische Romane beschäftigen sich, mal mehr, mal weniger deutlich in Metapher gekleidet, mit den Missständen unserer Welt, mit Wünschen, Sehnsüchten und Herausforderungen. Trotzdem werden sie oft als nicht ernstzunehmend belächelt. Und das wiederum ist interessanterweise ein Vorwurf, den hiesige Fantasy-Leserinnen und Leser oft deutschsprachigen Romanen dieses Genres gegenüber vorbringen. Sie sei nicht komplex genug, die Figuren seien zu stereotyp, die Autorinnen und Autoren würden keine Experimente wagen.

Wie kommt das?

„Englischsprachige, vor allem amerikanische Fantastik ist 'in', weil ihr ein Hauch von Hollywood und weltübergreifendem Charme anhaftet“, vermutet Mira Valentin, Autorin der vierteiligen Enyador-Saga.

Die Legende von Enyador

„Ich bin jedoch der Meinung, dass deutsche Autoren individuellere Geschichten schreiben, die dann auch losgelöst von Klischees und gängigem Schwarz-Weiß-Denken funktionieren.“

Markus Heitz, seit fast zwanzig Jahren einer der beliebtesten Fantasy-Autoren Deutschlands, verweist sogar auf einen Vorteil, den deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber der amerikanischen Konkurrenz haben: „Die Vielfalt der Märchen- und Sagenwelt, die wir in Deutschland haben, egal ob Volks- oder Kunstmärchen, und die sicherlich mal mehr, mal weniger unterschwellig in den Köpfen der Schreibenden vorhanden ist.“

Er findet, es kommt weniger auf das Herkunftsland von Phantastik an, sondern auf die Unterschiede von Autoren und Autorinnen in der Ausgestaltung der fantastischen Romane. „Verschiedene Gewichtungen und Herangehensweisen sind die besonderen Gewürze, egal welche Nationalität die Kreativen haben.“

Die Zwerge

Den großen Durchbruch feierte Heitz mit seiner Fantasy-Reihe Die Zwerge. Der vierte Band stieg im März 2008 auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste Belletristik Hardcover ein. Den Deutschen Phantastik Preis hat er bereits zahlreiche Male gewonnen. Als Geschichtenerzähler liebt er die Abwechslung. Neben zahlreichen High Fantasy-Romanen verfasste er Bücher über Drachen in den 1920er Jahren, die keine hirnlosen, feuerspeiende Bestien sind, sondern intelligente, machtbesessene Wesen, die heimlichen Drahtzieher hinter politischen Krisen auf der ganzen Welt.

In Des Teufels Gebetbuch steht ein uraltes Kartenspiel im Mittelpunkt, bei dem bestimmte Kartenfolgen unheimliche Dinge auslösen können. In Ritus verarbeitet er die mysteriöse Geschichte um die Bestie des Gévaudan. Die dunklen Lande spielen während des 30jährigen Krieges und drehen sich um die junge Abenteurerin Aenlin Kane und ihre Gefährtin, eine persische Mystikerin. Und in seiner neuen, großen Fantasy-Reihe Die Meisterin wimmelt es von übernatürliche Wesen nicht nur in Leipzig, sondern auch in London, Italien und New Orleans. Heldin des unter anderem mit Bettina Zimmermann hochkarätig besetzten Hörspiel-Dreiteilers ist die unsterbliche Heilerin Geneve Cornelius, die einer alten Henkersfamilie entstammt und die wider Willen in eine uralte Fehde hineingezogen wird.

Die Meisterin

Ebenfalls abwechslungsreich liebt es sein nicht minder populärer Kollege Kai Meyer. Bekannt geworden ist er bei den Fantasy-Lesern um die Jahrtausendwende vor allem durch seine Jugend- und All Age-Bücher wie Die Wellenläufer, dem Merle-Zyklus und dem märchenhaften Frostfeuer.

Meyer schreibt aber auch für Erwachsene: Das Buch von Eden und Herrin der Lüge sind historische Romane, die allesamt fantastische Elemente beinhalten.

Exotisch und düster: Märchenhafte Romane

Durch alle Zeiten und Epochen

„Ich glaube, meinen Geschichten merkt man an, dass meine Einflüsse ziemlich breit gefächert sind. Ich kann mich für einen begrenzten Zeitraum in große Begeisterung für völlig unterschiedliche Themen hineinsteigern, die ich dann ins Phantastische überhöhe. Etwa das alte China in der Wolkenvolk-Trilogie, die italienische Mafia in den Arkadien-Büchern, der Orient aus Tausendundeine Nacht in Die Sturmkönige, das Berlin der Zwanzigerjahre in Das Zweite Gesicht, aber auch die Space Opera von Die Krone der Sterne“.

Seide und Schwert

Auch Meyer ist sich sicher, dass deutschsprachige Fantasy den Vergleich zur amerikanischen nicht zu scheuen braucht. „Manche Autorinnen und Autoren bauen auf der Tradition der Romantik auf“, erklärt er.

Düstere Romantik

„Möglicherweise bekommen wir das glaubwürdiger hin als viele Amerikaner. Das hat mit unserer schulischen Erziehung zu tun, aber auch mit einer Prägung durch die Landschaften, in denen wir uns bewegen, die Selbstverständlichkeit, mit der wir schon von Kind an Burgruinen, Schlösser und verwinkelte Altstädte besuchen.“

Die Briten hätten denselben Vorteil, wären aber in ihrer Phantastik lange damit beschäftigt gewesen, den Niedergang ihres Empires aufzuarbeiten. „Was wir Deutschen aufzuarbeiten haben, das Dritte Reich, hat in unserer Unterhaltungsliteratur lange Zeit kaum stattfinden dürfen, schon gar nicht in der verpönten Phantastik. Deshalb haben wir uns eher auf die romantischen Elemente unserer Vergangenheit konzentriert. Während also die Amerikaner all das nur aus zweiter und dritter Hand nachbauen konnten, und die Engländer mit dem Trauma der Kolonialzeit und der Thatcher-Jahre beschäftigt waren, haben wir – nachdem deutsche Phantastik in den 1990ern bei den Verlagen allmählich salonfähiger wurde – oft das Düster-Romantische betont.

Imperator, Staffel 1

Als Meyer in den 1990ern begann, selbst Phantastik zu veröffentlichen, habe er sich die phantastische Literatur der 1910er- und 1920er Jahre von Gustav Meyrink, teils Hanns Heinz Ewers und Franz Spunda zum Vorbild genommen.

Alte deutsche Mythen

„Statt auf Teufel komm raus zu versuchen, wie ein Autor aus Amerika oder England klingen zu wollen, habe ich mir in meinen frühen Büchern deutsche Mythen und Schauplätze vorgenommen – die Loreley, der Rattenfänger, die Märchen der Brüder Grimm, die Nibelungen und so weiter – und daraus neue Geschichten gemacht, vermischt eben mit all den dunklen Elementen der frühen deutschen Phantastik. Und das ist für mich dann auch eine Stärke, mit der wir arbeiten können: Unsere Geschichten lokal zu verorten.“

Brechen mit Klischees

Mira Valentin sieht ihr Erfolgsgeheimnis vor allem darin, mit den Klischees zu brechen, die sich über die Jahrzehnte in der Fantasy eingeschlichen haben. „Ein schwuler Held, ein dunkelhäutiger Elf, ein Werwolf mit Panikattacken - Rule-Breaking funktioniert und kommt auch beim Leser an, der sich mit solchen Protagonisten identifizieren kann.“

Dabei ist es ihr wichtig, dass ihre Heldinnen und Helden niemals fehlerfrei sind, sondern Unzulänglichkeiten mitbringen, die auch ein Leser / eine Leserin von sich selbst kennt. „Dennoch schaffen sie Großes, erleben Spannendes, fallen in Untiefen und kommen verwandelt daraus hervor“, betont sie. „Mein Schreibstil passt sich dabei der Buchreihe an. Nordische Wikingerwelten schreibe ich kühler und grausamer, epische High Fantasy mit mehr Metaphern, Jugendfantasy in Ich-Erzählung.“

Windherz

Auch Mira Valentin liebt die Abwechslung. Neben ihrem High Fantasy-Vierteiler schrieb sie mit Kathrin Wandres die Weltenwechsel-Fantasy Das Flüstern des Waldes und mit ihrem Jugendbuch Der Mitreiser und die Überfliegerin einen Roman, bei dem man sich bis zum Schluss nicht sicher ist, ob es nun Magie gibt oder nicht. Für Nordblut tauchte sie tief ab in die Geschichts- und Mythenwelt der Wikinger.

Deutschsprachige Fantasy ist durchaus vielfältig.

Woher kommt er also, dieser Vorwurf, dass Fantasy aus anderen Ländern einfach mehr drauf hat? Vielleicht entstand dieser Eindruck, weil nach dem bombastischen Erfolg des "Herrn der Ringe" im Kino hierzulande der Siegeszug der sogenannten "Völkerfantasy" begann: Bücher, in deren Mittelpunkt jeweils ein klassisches Fantasy-Volk stand, das das Publikum bereits aus Mittelerde kannte: Die Trolle, Die Elfen und ähnliche Titel.

Die Romane spielen weder auf Tolkiens Mittelerde, noch hängen sie miteinander zusammen. Eine ganze Generation neuer Leser, hungrig nach Abenteuern im Geiste des Kinoblockbusters, stürzte sich auf diese Bücher und machte sie kommerziell erfolgreich. Das Fantasygenre erlebte in Deutschland einen deutlichen Aufschwung und half vielen Autoren, sich auf dem Markt zu etablieren.

Da die Nachfrage den Markt oft bestimmt, entwickelte sich die Völker-Fantasy bald zu einem eigenen Unter-Genre: Orks, Zauberer, Feen, Hexen und Halblinge drängten sich dicht an dicht in die Regale der Buchhandlungen. Phantastik hat jedoch viele Facetten und diese genrekonforme Aufmachung mag bei vielen Fantasy-Lesern den Eindruck erweckt haben, deutschsprachige Fantasy folge ausschließlich konservativen, wenn auch sehr beliebten Mustern. In manchen Fällen war dies sicher der Fall. In anderen jedoch überhaupt nicht, wie man bereits bei einem flüchtigen Blick auf die Werke von Heitz, Meyer und Valentin erkennt.

Die Töchter von Ilian

Der Erfolg der Völkerfantasy erlaubte es zudem Autorinnen und Autoren wie Verlagen, ganz andere Geschichten zu veröffentlichen: Oliver Plaschkas vielgelobtes Das Licht hinter den Wolken beispielsweise, ein High Fantasy-Epos, dessen Handlungsort von der Spätantike inspiriert worden zu sein scheint. Walter Moers kultige Zamonien-Reihe, Jennifer Benkaus dystopischer Zweiteiler Dark Canopy oder Nicole Böhms Urban Fantasy Das Vermächtnis der Grimms, die im vergangenen Jahr als Bester Roman 2019 mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet wurde.

Ebenfalls letztes Jahr hat Jenny-Mai Nuyen bewiesen, wie man aus traditionellen Versatzstücken einen beeindruckend diversen High Fantasy-Roman schreiben kann. In Die Töchter von Ilian geht es um magische Gegenstände, die an Kraft gewinnen, wenn man sie verschenkt, die jedoch schwächer werden, wenn man sie raubt und um eine Hochkultur, die im Matriarchat lebt. Im Roman bricht die Autorin mit allerhand Genrekonventionen und sie überzeugt sowohl sprachlich als auch inhaltlich.

Die deutschsprachige Fantasy hat viel zu bieten. Es lohnt sich, sie zu entdecken.

Als Abschluss dieses Artikels haben wir Mira Valentin, Markus Heitz und Kai Meyer noch gebeten, uns einige ihrer Lieblingstitel aus diesem bunten Genre zu verraten. Das sind ihre Empfehlungen:

Mira Valentin:

Mein Tipp aus der deutschsprachigen Fantastik: Der Totengräbersohn von Sam Feuerbach: Herausragender Humor, spannende Story, liebenswerte Charaktere, Rule-Breaking vom Feinsten.

Der Totengräbersohn 1

Markus Heitz:

Weil die deutsche Phantastik sehr alte Wurzeln hat, würde ich tatsächlich E.T.A. Hoffmann empfehlen, der viele Elemente des Schauerromans und des Übernatürlich, des Magischen in seinen Werken vermengte. Und Kreativen der Gegenwart Inspiration bot.

Kai Meyer:

Zu wenige jüngere Phantastik-Fans kennen noch die deutschen Genre-Klassiker, deshalb empfehle ich „Alraune“ von Hanns Heinz Ewers und Der Golem von Gustav Meyrink.

Der Golem

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