Nicht unschuldig am Imagewandel des Drachen vom menschenfressenden Ungeheuer zum freundlichen Begleiter mit guter Kinderstube ist sicherlich Michael Ende mit seinem hilfsbereiten Drachen Nepomuk aus der Jim Knopf-Reihe oder dem weißen Gücksdrachen Fuchur aus Die unendliche Geschichte. Diese Drachen sind groß und tollpatschig, aber ausgesprochen kinderfreundlich und sympathisch. Weitere Beispiele sind die von Max Kruse geschaffenen populären Erzählungen um Urmel aus dem Eis, die italienische Zeichentrickfigur des kleinen Drachen Grisu, der eigentlich Feuerwehrmann werden will, aber aus Versehen ständig seine Umgebung in Brand setzt, und natürlich Disneys Elliot, das Schmunzelmonster, das im Jahr 2016 ein Realfilm-Remake als Elliot, der Drache erfuhr. Aktuell erfreuen sich Der kleine Drache Kokosnuss und der Nachtschatten Ohnezahn aus Drachenzähmen leicht gemacht größter Beliebtheit bei kleinen Drachenfans.

Der kleine Drache Kokosnuss feiert Weihnachten

Diese freundlichen Drachenfiguren vereinen auf sich dabei sehr widersprüchliche Eigenschaften: sie verkörpern zugleich das Monster und den Anti-Helden:u Aufgrund ihrer körperlichen Eigenschaften sind sie eigentlich furchteinflößend und gefährlich, ihr Charakter ist aber im Kern gut und sie unterstützen ihre menschlichen Freundinnen und Freunde, wo es geht. Dabei unterlaufen ihnen immer wieder recht lustige Tollpatschigkeiten. Dass sie nicht perfekt sind, macht sie eben auch gleich wieder sympathisch, um nicht zu sagen: menschlich auf ihre Weise.

Der Nachweis übrigens, dass Drachen, genau wie andere magische Wesen, wirklich existieren, gelang Professor Ambrosius Ferdinand Sigismund Maria von und zu Drachenfels, seines Zeichens Rector Magnificus der Seetaler Hochschule für Drakologie in der Schweiz. Dort, im kleinen Seetal bei Luzern, studiert er ihre Lebensweise und Gewohnheiten. Das Gespräch mit ihm lehrt uns vieles, aber vor allem, dass wir uns vielleicht im Alltag nicht immer nur auf das Oberflächliche, Augenfällige konzentrieren sollten. Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen ist es wichtig, die magischen Momente nicht nur nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern auch öfter mal bewusst aufzuspüren.

Drachenzähmen leicht gemacht 1

Herr Professor von und zu Drachenfels, Sie haben Sie bereits 1874 Ihre Doktorarbeit zur Genealogie der Drachenfamilien vorgelegt, das heißt, Sie müssen ja schon weit über 150 Jahre alt sein. Wie halten Sie sich fit?

Ich zähle die Jahre eigentlich nicht – und im Vergleich zu Drachen ist das ja ein Baby-Alter. Drachen können locker 1000 Jahre alt werden. Mit 30 gehen sie zur Schule, mit 141 sind sie erwachsen. Und leider haben sie auch ein ausgezeichnetes Gedächtnis, vor allem, wenn sie mal mit jemandem Streit gehabt haben. Auch nach 377 Jahren können sie sich noch daran erinnern, wenn sie jemand mal nicht gegrüßt hat.

Dann hat die lange Lebenszeit der Drachen eventuell etwas auf Sie abgefärbt?

Kann gut sein, dass es etwas abfärbt!

Eri und das Ei des Drachen

Was ist denn Drakologie eigentlich?

Das ist die Wissenschaft, die Drachen erforscht: die verschiedenen Arten von Drachen, ihr Verhalten bis hin zur Physiologie von Drachen. Und natürlich auch die ganze Drachengeschichte. Wir im Seetal sind die einzige Hochschule, die das Studienfach anbietet, das kann man also nur hier studieren.

Und wer kann das studieren?

Eigentlich alle, die es interessiert. Aber man muss schon ein bisschen hart im Nehmen sein, wenn man sich mit Drachen befasst. Da werden auch mal die Haare versengt oder es passieren andere kleine Unfälle, denn Drachen sind oft etwas ungeschickt. Durchhaltevermögen ist auch eine wichtige Eigenschaft für angehende Drakologen: Es braucht sehr viel Geduld, weil man oft warten muss, bis sich einem überhaupt ein Drachen zeigt. Viele Möchtegern-Drachenforscher wollen immer sofort Resultate sehen, die denken, sie müssen jetzt sofort einen Drachen sehen. Aber manchmal muss man eben ein, zwei Jahre warten, bis man vielleicht irgendwo auch nur einen Abdruck findet.

Ritter Wüterich und Drache Borste

Es dauert also, bis man endlich mal einen Drachen zu Gesicht bekommt?

Genau. Das hat auch seine Gründe, dass Drachen schwierig zu finden sind: die waren ja lange Zeit verfolgt von Drachentötern, die sich groß aufgespielt haben. Da haben die Drachen eben sehr raffinierte Mittel entwickelt, um sich den Menschen nicht zu zeigen. Die meisten Menschen sind auch einfach nicht aufmerksam. Die sehen sie nicht. Die Drachen sind aber überall zu finden, vor allem im Seetal.

Wie kann man denn zu Drachen Kontakt aufnehmen? Braucht man dafür bestimmte Instrumente oder eine besondere Fähigkeit, sie sehen zu können?

Zum Teil sind da gewisse Beziehungen über die Jahre gewachsen. Ich wurde auch schon zu einem Drachenfest eingeladen, aber da muss man ganz schön aufpassen, da geht es ganz schön hitzig zu! Ich habe auch einige Hilfsmittel zur Verfügung, etwa den Drakoradar, mit dem ich den genauen Standort eines Drachen aufspüren kann. Der Drakotranslator hilft mir, die Drachensprache zu verstehen, den kann man sich wie eine Mütze aufsetzen. Und das Drakoskop ist eine spezielle vierdimensionale Doppelbrille, mit der mit dem blossen Auge unsichtbare Drachen zu sehen sind.

Babuba und die bunten Drachen - Phantasiereisen zum Entspannen und Einschlafen

Gibt es denn auch Mittel oder Tricks, um Drachen anzulocken?

Anlocken funktioniert nicht so gut. Natürlich essen sie sehr gerne, also das Hypopoppa etwa isst gerne Apfelküchlein, aber sie damit gezielt anzulocken, ist eher schwierig. Es gibt Flugdrachen, die gerne die Äpfel aus den Baumspitzen fressen, die ganz oben, an die man beim Pflücken von unten nicht herankommt, und die nach einer Weile schon ein bisschen vergoren sind. Es ist einfach wirklich eine Frage der Geduld.

Wie sind denn die Drachen charakterlich so? Sind die freundlich oder aggressiv oder vielleicht auch ein bisschen scheu?

Ich finde sie sehr freundlich. Die Drachengeschichte wurde von Menschen sehr kontrovers wahrgenommen und aus meiner Sicht lange Zeit falsch gedeutet, sie werden als etwas Böses wahrgenommen, ein chaotisches Prinzip. Da kämpfe ich sehr, dass dieses Bild geändert wird und sie positiv wahrgenommen werden. In China sind Drachen Glücksbringer, dort etwa hat man ein ganz anderes Verhältnis zu Drachen als in Mitteleuropa. Drachen sind per se für Menschen nicht gefährlich, sie betrachten Menschen nicht als Beute, aber sie sind etwas tollpatschig. Sie passen oft nicht richtig auf und haben große Kraft, sie sind ziemlich wild, da muss man schon rechtzeitig aus dem Weg gehen.

Der Drache aus dem blauen Ei

Sind denn alle Drachen riesig groß? Wie groß muss ich mir die vorstellen?

Unterschiedlich. Das letzte Drachenei, das ich gesehen habe, war etwa so 40 Zentimeter hoch und so klein war auch der entsprechende Drache, der herausgeschlüpft ist. Von 15 Zentimeter hoch bis 6,50 Meter ist alles möglich.

Was für Arten von Drachen gibt es?

Es gibt vier Arten von Drachen: Feuerdrachen, Luft-Flug-Drachen, das sind die, die Äpfel von den Bäumen fressen. Dann gibt es die Wasserdrachen, selbstverständlich im Hallwiler- und im Baldeggersee hier in der Gegend, von zwei Familien weiß ich sicher. Dann gibt es die Feld-, Wald- und Wiesendrachen. Die Familien bleiben schon ein wenig unter sich, es ist also eher selten, dass sie untereinander heiraten, aber es gibt Ausnahmen. Gerade hier in Schloss Heidegg leben solche Ausnahmen, der Blasius und die Balsamia. Er ist ein Feuerdrache und sie ein Feld-, Wald- und Wiesendrache. Die haben sich halt verliebt, wie das so ist. Trotz der Drachenwelt, die darüber die Nase gerümpft hat, haben sie sich zusammengetan und drei Kinder bekommen. Die Kinder sind Mischdrachen mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften.

Fantastische Drachen

Würden Sie sagen, dass gerade das nicht weit von Luzern gelegene Seetal geeignet für das Drachenstudium ist? Gibt es dort besonders viele Drachenfamilien?

Drachen gibt es überall! Aber im Seetal hat es sich so ergeben, dass dort besonders viele leben. Und dort ist die Wahrscheinlichkeit, einen Drachen zu sehen, sehr groß, wenn man eben weiß, wie man sie erforscht. Deswegen haben wir die Hochschule für Drakologie dort angesiedelt, auf dem Schloss Heidegg, wo man einen schönen Blick über das Tal hat und sie gut beobachten kann. Ich habe dort in meinem Arbeitszimmer verschiedenste Gerätschaften für die Forschung, Spezialfernrohre und so weiter, die Besucherinnen und Besucher auch ausprobieren können.

Ambrosius von und zu Drachenfels von Alexander Preobrajenskij 2

Haben Drachen eigentlich eine Form von Magie?

Sie können Dinge, die Menschen nicht können. Ist das jetzt Magie? Für die Drachen ist das selbstverständlich, sie merken es gar nicht. Feuerspeien oder Fliegen, das können sie einfach. Das Hypopoppa etwa kann durch Wände gehen. Dann gibt es den Drachenstein, ein Werkzeug der Drachenheilkunst. Das führt die Drachenambulanz mit sich, die vom Pilatus herfliegt – der Pilatus ist ein bekanntes Bergmassiv hier in der Gegend. Wenn Menschen einmal in der Interaktion mit Drachen aus Versehen verletzt werden, hilft der Drachenstein. Auch aus Versehen verbrannte Häuser und zum Absturz gebrachte Flugobjekte werden wieder wie neu. Das ist in unseren menschlichen Augen sicher eine magische Eigenschaft. Einer meiner Forschungsschwerpunkte ist ja darüber hinaus, wie die Drachen es schaffen, dass sie für Menschen erst einmal unsichtbar und nicht findbar sind. Sie sind ja groß, aber man sieht sie nicht! Das ist eine Fähigkeit, die ich noch nicht erklären kann.

Was ist denn für Sie eigentlich persönlich das Faszinierende an Drachen?

Es ist ganz sicher ihre Wildheit und das Geheimnis, das sie umgibt, das ich immer noch nicht ganz lösen konnte. Aber auch, dass man von ihnen immer wieder positiv überrascht wird. Ihre Großzügigkeit in jeder Hinsicht: Sie übertreiben gerne, und das gefällt mir, dass sie nicht so klein-klein sind. Drachen haben darüber hinaus etwas Kindliches, das ich mag. Menschenkinder sind oft auch nicht so berechenbar, das haben sie mit den Drachen gemeinsam. Sie sind sehr emotional, das ist eine weitere Ähnlichkeit zu Kindern. Und Drachen sind auch sehr gescheit, auf eine ganz besondere Weise. Sie können zwar nicht wahnsinnig gut rechnen, aber sie besitzen so etwas wie Lebensweisheit. Ihre ein bisschen chaotische Art des Zusammenlebens in Familien, auch wenn sie oft streiten – mir gefällt gerade dieses Lebendige an den Drachen sehr.

Die Drachenblume. Das Original-Hörspiel zur TV-Serie

Haben Sie denn eigentlich einen Lieblingsdrachen oder jemanden, mit dem Sie besonders befreundet sind?

Ach, so kann man das nicht sagen. Der kleine Drache Zwieback allerdings wohnt bei mir im Schloss. Ich bin mittlerweile so etwas wie ein Ersatzgroßvater für ihn geworden. Der ist ein ganz aufgeweckter, lustiger Drache und hat auch viele Freundinnen und Freunde hier, die er mitbringt. Er ist ein eher scheuer Drache und kommt aus einer Feuerdrachenfamilie. Aus Versehen wurde er aber leider von seiner Tante Furiosa zweimal im Drachenofen gebacken, daher der Name Zwieback. Das war natürlich ein Fehler, denn einmal hätte genügt – durch das zweite Mal Backen ist er sehr hitzeempfindlich geworden, was es in seinem Umfeld für ihn nicht sehr leicht macht. So muss er in der Schule natürlich trotzdem alle Feuerprüfungen absolvieren. Zum Glück hilft ihm sein bester Freund Sibelius da durch. Zum Dank bekommt er immer die besonders scharfen Pausenbrote mit Chili und Peperoncini, die Zwieback von seiner Tante Furiosa in die Schule mitbekommt.

Kleiner Drache heißt: der wächst noch?

Aber ja, der ist im Moment ein bisschen kleiner als ich, ich bin ja auch nicht so groß.

Das Sams und der blaue Drache

Wie kamen Sie denn eigentlich zum Feld der Drakologie?

Ich bin damit aufgewachsen, als letzter Nachfahre einer langen Ahnenreihe von Drachenforscherinnen und -forschern. Meine Großmutter, Aglaia, die Unerschrockene, die hat ja auch schon Drachen erforscht. Aus diesem Grund sind wir in unserer Familie auch immer wieder umgezogen und haben auf verschiedenen Schlössern gelebt. Ich hab eigentlich nie etwas anderes gemacht, als über Drachen geforscht. Aber auch wenn ich mich schon über 150 Jahre mit dem Thema befasse, bin ich davon noch lange nicht gelangweilt oder am Ende meiner Forschungen angelangt. Das ist so ein riesiges, spannendes und vielfältiges Feld, dass mich das noch lange beschäftigen wird.

Da drücken wir Ihnen und Ihren Studierenden doch die Daumen und wünschen zukünftig dabei noch viel Erfolg!

Danke! Man kann natürlich bei sich zu Hause auch einmal ein wenig Forschung betreiben und mit viel Geduld? Vielleicht wird man da auch fündig! Wir sind als Hochschule immer an Berichten verschiedener Forschungen aus aller Welt interessiert, das ist spannend, da den Austausch zu pflegen. Kinder können uns ganz einfach einen Brief schreiben, das haben auch schon viele getan, wir freuen uns immer über Drachenpost. Die Anschrift der Hochschule findet sich auf unserer Webseite.

Noch mehr Informationen und reichhaltige Illustrationen zum Thema Drachenforschung und über die Drachen im Seetal finden sich in Forschungsband Nr. 231 des Professors von und zu Drachenfels. Der Band enthält auch eine Erlebniskarte vom Seetal mit vielen Möglichkeiten, sich selbst aktiv beim Thema Drachenforschung einzubringen.

Dan Wiener und Andrey Fedorchenko: Ambrosius Ferdinand Sigismund Maria von und zu Drachenfels: Die Seetaler Drachen-Saga. Glarus (Baeschlin-Verlag) 2018.

Wer das Seetal und die Hochschule für Drakologie einmal selbst besuchen möchte, kann sich hier informieren.

Fotos: Alexander Preobrajenskij

Illustration: Andrey Fedorchenko