Die französische Autorin Emma Becker schrieb neulich über ihre Erfahrungen in einem Berliner Bordell – und brach damit in ihrer Heimat eine hitzige Debatte vom Zaun. Dabei haben ihre Landsleute noch weitaus Pikanteres verfasst...
Französisch. Das Adjektiv allein klingt in deutschen Ohren schon wie eine Verheißung: nach frivoler Raffinesse, nach kultivierter Verführungskunst. Kombiniert mit dem Stichwort „erotische Literatur“ zieht gleich ein ganzer Reigen legendärer Provokateure vor dem geistigen Auge vorbei: von Choderlos de Laclos und dem Marquis de Sade über Colette und Benoîte Groult bis hin zu Virginie Despentes, Michel Houllebecq, Leïla Slimani, Catherine Millet…
Kein Wunder, dass in Verlegern das Jagdfieber erwacht, wenn in Frankreich wieder einmal eine Autorin oder ein Autor mit explizit erotischen Passagen von sich reden macht. Die Lektorin Margit Knapp hat vor zwei Jahre ein solches „heißes Buch“ für den Rowohlt-Verlag ergattert: Emma Beckers autofiktionalen Roman La Maison, der nun in Deutschland erschienen ist.
Die französische Autorin mit dem deutsch-klingenden Künstlernamen (tatsächlich heißt sie Emma Durand) ist zwei Jahre lang anschaffen gegangen. In einem Bordell im gutbürgerlichen Berlin-Wilmersdorf. Emma Becker wohnt seit 2013 in der deutschen Hauptstadt, mittlerweile zusammen mit ihrem Freund und dem gemeinsamen Sohn. Nur hier konnte ihr Buch entstehen, denn – Ironie der Geschichte – in Frankreich sind Bordelle seit 1946 verboten. Eine Prostituierte, die sich dabei erwischen lässt, wie sie einen Freier anwirbt, muss im Land der Libertinage heute mit einer hohen Geldstrafe und sogar mit Gefängnis rechnen. Dabei mischten Mätressen und Kurtisanen wie Ninon de Lenclos oder die legendäre Madame de Pompadour einst in höchsten politischen Kreisen mit.
In Berlin dagegen konnte Emma Becker als „Justine“ ganz legal ihre Freier bedienen. Die Absicht, ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben, hatte sie von vorneherein, denn sie brauchte einen Stoff für ihren dritten Roman.
„Es gab schon Autorinnen, die ihre eigenen Erfahrungen mit Prostitution in Büchern verarbeitet haben, aber diese Bücher genügten keinem literarischen Anspruch“, berichtet ihre Lektorin, Margit Knapp. „Emma Becker hat diesen Anspruch. In jeder der Figuren, die sie in ihrem Roman konstruiert, stecken die Erlebnisse von zehn bis zwanzig realen Menschen. Mir hat gefallen, wie kunstvoll sie das macht.“
Tatsächlich ist „La Maison“, ein sinnliches, zärtliches Buch. In kurzen Szenen und einer mal direkten, mal poetischen Sprache porträtiert die Autorin ihre ehemaligen Kolleginnen und deren Freier. Sprecherin Franziska Knost gibt dem Text genau die Herzenswärme und Intimität, die auch Emma Beckers genaue Beobachtungen auszeichnet.
Skandal, Skandal: Erotische Literatur gestern und heute
In Frankreich musste Emma Becker sich viel für ihr Buch rechtfertigen. Sie stelle das Bordell als verkuscheltes Refugium dar, wo Frauen frei und selbstbestimmt ihrer Arbeit nachgehen, eindeutige Macht über die eher würstchenhaften Männer haben und gar darüber jammern, wenn sie ein Freier nicht zum Orgasmus bringt. Dabei sei Prostitution für die Mehrzahl der Frauen nun mal ein erniedrigendes, von Gewalt und Ausbeutung bestimmtes Geschäft.
Emma Becker hält dagegen: Wo Prostitution legal sei, so ihr Argument, ginge es den Frauen in aller Regel besser. Sie habe das Bordell nun mal so erlebt, wie sie es in ihrem Buch schildere. Im Übrigen müsse eine Frau, die sich aus freiem Willen für diesen Job entscheide, sich nicht dafür entschuldigen – es sei ja schließlich ihr Körper.
„Emma Becker gehört einer neuen Generation an. Was die französischen Feministinnen des 20. Jahrhunderts wie Simone de Beauvoir oder Benoîte Groult erkämpft haben, ist für sie selbstverständlich. Dieser neuen Generation geht es nicht mehr darum, sich von den Männern zu emanzipieren. Sie wollen herausfinden, was Freiheit für sie ganz persönlich bedeutet“, glaubt Margit Knapp.
Justine jedenfalls genießt den Sex und die Macht, die er ihr über die Männer verleiht. Ganz anders als ihre berühmte Namensschwester, an die Beckers Künstlername erinnert: Justine oder das Unglück der Tugend ist ein Klassiker der erotischen Literatur aus der Feder des berüchtigten Marquis de Sade. Die tugendhafte Protagonistin wird darin von perversen Lüstlingen zu immer perfideren Sexspielen gezwungen.
„Sicher hat keine Literatur, kein Zeitalter ein derart skandalöses Werk aufzuweisen. Kein anderes Werk hat Gefühl und Denken der Menschen tiefer verletzt ... Wir haben hier das anstößigste Werk vor uns, das jemals geschrieben wurde.“
Maurice Blanchot über den Doppelroman Justine und Juliette
Emma Becker erzählt in Interviews, wie sie die erotische Literatur, die sie als Schülerin las, faszinierte und prägte. Émile Zolas Roman Nana von 1880 etwa, einer der erfolgreichsten Romane des Naturalismus. Darin steigt eine talentfreie, aber zeigefreudige Straßendirne zur gefeierten Operettendiva auf, ruiniert etliche Politiker und adlige Liebhaber und stirbt schließlich verarmt und einsam. Zola wollte die Dekadenz und moralische Verderbtheit der Pariser Oberschicht anprangern. Die reagierte nicht etwa beleidigt, im Gegenteil: Die Pariser amüsierten sich prächtig über die Provinzialität des Autors, der seinen Stoff nur von Hörensagen her kannte, da er fern ab vom Pariser Nachtleben auf dem Land lebte. Dem Erfolg des Romans tat das keinen Abbruch.
Zur selben Zeit wuchs in einem Dörfchen im Burgund ein Mädchen heran, das kurz darauf tout Paris mit ihren amourösen Abenteuern begeisterte: Colette. Ihr langes Leben voller skandalöser Liebschaften mit Männern und Frauen boten der Autorin reichlich Stoff für eine einmalige literarische Laufbahn. In ihren Claudine-Romanen schrieb sie unverblümt über weibliche Sexualität und äußerte sich kritisch über die Ehe. Den Kurtisanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts setzte sie mit ihrem Roman Chéri ein Denkmal. In Frankreich gilt sie bis heute als Grande Dame der Literatur, die sogar - als erste Frau überhaupt - ein Staatsbegräbnis bekam.
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Was damals ein Skandal war, erscheint aus heutiger Sicht in nostalgischem Glanz. Denn in der Literatur des 21. Jahrhunderts hat der Sex selbst seine Unschuld verloren. Er ist vom sinnlichen Vergnügen zu einem Sucht- und Rauschmittel geworden, zur letzten Zuflucht tief verzweifelter Protagonisten.
Wie in Michel Houellebecqs Romanen, in deren Zentrum oft ein depressiver und egozentrischer Erotomane steht. Oder bei Catherine Millet, die ihr ausschweifendes Sexualleben emotional unbewegt und mit klinischer Nüchternheit protokollierte. Bei Leïla Slimani, deren sexsüchtige Heldin Adèle alles aufs Spiel setzt, um sich in den Armen Fremder zu spüren. Oder bei der vielfach ausgezeichneten Virginie Despentes, deren kluge Gesellschaftsstudien auch ein Abgesang auf den französischen Liberalismus sind. Wo französische Autoren heute über Sex schreiben, geht es ihnen eigentlich um gesellschaftliche Kälte, Hass und Intoleranz. Denn darin liegt für die französischen „Skandal-Autoren“ der wahre Skandal.
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