Dr. Heike Melzer Interview
Dr. Melzer, wie lieben die Deutschen?
„Die Deutschen“ gibt es nicht. Wir sind – auch durch die Einwanderung – ein buntes Land. Da fällt es schwer, zu pauschalisieren. Auch „Liebe“ ist genauso wie „Sexualität“ oder „Treue“ ein Konstrukt. Aber die Autonomisierung der Triebe, diese Abkoppelung, ist in Deutschland im internationalen Vergleich schon stärker vorangeschritten. Wenn man sich beispielsweise die Zahlen von Pornhub anschaut, nimmt Deutschland Platz 7 ein – ist aber von der Bevölkerungsanzahl her nur auf Rang 17. Bei den großen Casual-Sex-Börsen sind in Deutschland 15 Millionen Nutzer registriert. Auch in dem Bereich Dosissteigerung/Toleranzentwicklung sind wir gut unterwegs. Wir sind schon Menschen, die eher zu Extremen neigen und in die Vollen gehen.
Stellen Sie das auch bei Ihrer Arbeit als Therapeutin fest?
Ich sehe in meiner Praxis, dass die Art, wie wir lieben, sich massiv verändert hat. Pornos, Casual Sex und käuflicher Sex lassen sich heute bequem aus der heimischen Komfortzone anbahnen. Die Kollateralschäden nehmen zu: dass das Verhalten ins Süchtige abgleitet oder dass Konflikte in der Partnerschaft daraus resultieren.
Pornos ändern unsere sexuellen Fantasien und Vorlieben
Welche Art von Pornos wünschen Sie sich für Ihre Klienten und Klientinnen?
Ich bestärke meine Klienten immer in ihrer Autonomie und eigenverantwortlichen Entscheidungskraft. Sie sollen anschauen, was sie möchten und was ihnen im besten Fall auch langfristig guttut. Die Maschinerie entwickelt sich jedoch immer weiter in die Extreme. Was früher Hardcore war, ist heute Blümchensex. Manche Szenen sind so hart, dass sie doch eher den Verdacht wecken, dass es sich hier um Missbrauchsmaterial beispielsweise einer Massenvergewaltigung handelt, als um blütenreine Pornoszenen mit ethisch einwandfreiem „Bio-Siegel“.
Was wünschen Sie sich denn von der Porno-Branche?
Ich wünsche mir, dass in der Pornografie mehr auf die Gefahren hingewiesen wird. Kinder und Jugendliche mit Smartphone kommen ja oft schon vor der Pubertät in Kontakt mit Pornos. Das verändert unsere sexuellen Fantasien, unsere sexuellen Vorlieben und das, was wir sexuell überhaupt noch können. Das hat nicht nur befreiende Effekte, sondern auch Abstumpfungseffekte. Die Menschen sollten zumindest wissen – so wie beim Alkohol – dass es abhängig und unsensibel für natürliche Reize machen kann.
Kann stärkere Zensur eine Lösung sein?
Nein. Auf alle Fälle muss auf die Folgen hingewiesen werden, wenn man sich frühzeitig und häufig Pornos ansieht. Als Sex-Gourmet konsumiert man selten und dann eher qualitativ hochwertig und in Gesellschaft. Pornos eignen sich ja durchaus, um die Lust zu steigern. Der Sexaholic konsumiert, um schlechte Gefühle zu vertreiben, ähnlich dem Alkoholiker, der trinkt um zu vergessen. Bei der Porno- und Sexsucht kann es dabei zu einer Stoffwechselstörung im Belohnungszentrum des Gehirns kommen - mit dramatischen Folgen für Betroffene und deren Umfeld.
Welche Pornos goutiert denn der Sex-Gourmet?
Ich wünsche mir da gewissermaßen ein Qualitätssigel: Pornos, die unter menschenwürdigen Bedingungen gedreht wurden, Pornodarsteller, die freiwillig und gesund am Start waren, sowie eine gewisse Grundästhetik und vielleicht sogar Handlungstiefe. Besonders spannend ist, wenn im Porno etwas noch verschlüsselt bleibt und die eigene Fantasie angeregt wird. So wie in guten Kinofilmen das Spiel mit der Sexualität inszeniert wird, ohne dass man sich direkt auf die erogenen Zonen konzentriert.
Wann sollte man sich Sorgen machen?
Sorgen sollten wir uns machen, wenn wir Erregung nur noch geheim erleben, andere oder uns selbst dabei missbrauchen, Sex zur Vermeidung schlechter Gefühle konsumieren und keinerlei Gefühle im Spiel sind. Sex ist so einzigartig schön, quasi ein Genussmittel – und genauso sollte er auch konsumiert werden.
Als einen Weg in Richtung Sex-Gourmet empfehlen Sie auch Sex-Fasten. Über welchen Zeitraum sprechen wir da?
Das kommt drauf an, wie sehr die Hose kneift: Wenn ich 130 Kilogramm wiege und auf 80 runter möchte, dauert das ein bisschen länger. Ähnlich ist es bei sexuellen Superreizen (Pornos, unverbindliche und käufliche sexuelle Kontakte, Sex-Toys). Je jünger ich begonnen habe und je häufiger ich konsumiert habe, umso stärker ausgeprägt sind die Gewohnheiten und umso länger dauert es, sie zu durchbrechen.
Was wären denn die richtigen Schritte in Richtung Sex-Fasten?
Ein Beginn wären vier Wochen ohne Superreize. Da merken dann einige schnell, wie schwer es fällt, von den eingeschwungenen Verhaltensmustern Abstand zu nehmen. Wissen ist die Basis für Veränderung. In der Regel kann man innerhalb von 28 Tage neue Gewohnheiten erlernen. In der Sexualität normalisiert sich der Botenstoff Dopamin im Belohnungssystem des Gehirns und wir werden wieder rezeptiver für natürliche Reize, sind fokussierter und können uns wieder besser auf unseren Gegenübern einlassen. Sexsüchtige und Pornosüchtige berichten oft bereits nach einer Woche Abstinenz, dass sie wieder spontane morgendliche Erektionen haben, die sie davor jahrelang nicht mehr hatten. Aber das ist ja auch klar, wenn ich bis nachts um 3 Uhr masturbiere, reagiert der Körper mit einer Art Selbstschutz.
Welche positiven Seiten können Sie virtuellen Welten, Tinder & Co. abgewinnen?
Ich finde es super, dass man dadurch Beziehungen über große Distanzen – auch intim – führen kann. Die Technik entlässt uns hier in eine Freiheit, mit der wir erst lernen müssen umzugehen. Menschen finden sich heute passgenauer als früher, sind aber leider auch schneller wieder aus den Augen, da sie oftmals die Qual der Wahl haben.
Menschen sehnen sich nach Bindung
Nach der sexuellen Revoution von 1968 und der jetzigen digitalen Revolution: Wohin geht die Reise?
Ich glaube, dass sich die Triebe immer mehr automatisieren werden. In Japan sind 42 Prozent der unverheirateten Männer und 44 Prozent der Frauen noch nie mit einem anderen Menschen intim gewesen. Sie versorgen sich autonom und heiraten teilweise Figuren aus Pornos oder aus Comics, mit denen sie sich verbunden fühlen.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Menschen haben jedoch auch eine Grundsehnsucht nach Bindung, Verbindlichkeit und Gesehen werden. Ich würde mir wünschen, dass die Uhr angehalten wird, die Menschen etwas achtsamer werden und auch Selbstwirksamkeit erleben. Ich wünsche mir, dass die Menschen weg von der Konsumhaltung kommen, die sie im Übermaß genossen, krank machen. Ich würde mir mehr Nachhaltigkeit, mehr Verbindlichkeit, mehr Ausdauer, mehr Tiefe wünschen. Die Menschen werden aktuell immer einsamer. Man kann verdammt viele Freunde auf Facebook haben und trotzdem vor Einsamkeit aus dem Fenster springen.
In welchen Momenten frustriert Sie Ihre Arbeit als Therapeutin?
Nie. Ich habe das große Glück, ein Thema gefunden zu haben, das mich interessiert und bei dem ich immer wieder dazu lerne. Ich treffe extrem spannende Menschen und höre die Geschichten des Lebens, die mich immer wieder in Erstaunen versetzen. Frustrieren tut mich eher, dass es Therapeuten gibt, die noch in ganz alten Strukturen denken und gewisse Verhaltensweisen stigmatisieren. Manche Therapeuten sind zu stark analog fixiert und haben keine Ahnung von den digitalen Veränderungen.
German Liebe
Der Audible Original Podcast German Liebe hat es sich zur Aufgabe macht, herauszufinden, wie wir Deutschen eigentlich lieben. Das Ergebnis könnt ihr jeden Donnerstag in einer neuen exklusiven Folge hören:
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