Was seinen vollständigen Namen angeht, hätte Nero auch ein Promi-Kind sein können: Nero Cladius Divi Claudius filius Caesar Augustus Germanicus könnte locker mit den Blue Ivys, Pilot Inspektors und Raddix‘ der Neuzeit mithalten. Wäre Nero nicht 37 nach Christus geboren, sondern im Jahr 1990, er wäre einer dieser Millennials. Einer der Vertreter der „Generation Y“, die angeblich ausmacht, dass sie alles hinterfragen und voll Wert auf eine gute Work-Life-Balance legen und so. Weil: YOLO.
Eine schrecklich gestörte Familie
Obwohl, YOLO würde Nero sicher gar nicht sagen. Nero wäre eines dieser coolen Kids, das dank seiner reichen Eltern immer die neuesten Sneaker tragen würde. Der Reichtum seiner Family würde gerade so davon ablenken, wie merkwürdig die alle drauf sind: Seine Mutter Agrippina, deren schönes Antlitz in der Antike Münzen zierte und die man heute als „Hot Mom“ bezeichnen würde, ist nämlich bereits bei Ehemann Nummer vier angekommen.
Damals, also im Jahr 49 nach Christus, war es ihr eigener Onkel, den sie in vierter Ehe geheiratet hat. Wofür extra Gesetze geändert werden mussten, die die Hochzeit zwischen Onkel und Nichte eigentlich verbaten – aber das nur mal so nebenbei.
Die moderne Agrippina wäre einer dieser Helikoptermütter, die ihren Augenstern auf einen dreisprachigen Kindergarten im Prenzlauer Berg schicken und auf dem Spielplatz damit prahlen würde, „was für ein cleveres Kerlchen“ ihr Nero doch sei. Irgendwann wird der mal Kaiser, äh, Kanzler, ganz sicher! Während Klein-Nero, weil er nämlich schon als Kind ernsthafte Probleme mit der Impulskontrolle hätte, mit seiner Schippe auf die Sandburg eines anderen Kindes eindrischt …
Der Nero der Antike hatte irgendwann genug von seiner machthungrigen Mum, die nichts anderes im Sinn hatte, als ihn auf den Kaiserstuhl zu bringen. Da widmet sie ihm ihr ganzes Leben, intrigiert was das Zeugt hält und räumt für ihn politische Gegner aus dem Weg, nur damit der undankbare Knilch sie ermorden lässt, als sie dann eben nicht mehr für, sondern gegen ihn intrigiert. „Regretting Motherhood“ auf einem ganz neuen Level.
Gut, Machterhalt durch Töten mag damals nicht ungewöhnlich gewesen sein, scheint aber aus heutiger Sicht doch ein wenig exzessiv (und vor allem höchst illegal). Der heutige Nero hätte seine nervige Alte wohl einfach auf den sozialen Medien blockiert und sein Studium abgebrochen, um so ganz individuell sein Ding zu machen und ihr gleichzeitig eins reinzuwürgen.
Nero und die Frauen
So wie Kaiser-Nero das Lautenspiel liebte, würde Hipster-Nero sich mit großer Leidenschaft eh lieber seiner Gitarre widmen, als richtig Geld zu verdienen. Die wechselnden Mädels, die er auf Tinder kennenlernt, wissen seine Skills zu schätzen. Genauso wie sie seine rötlich-blonden Locken und blauen Augen zu schätzen wissen: „Voll ungewöhnlich für ‘nen Italiener, aber irgendwie auch voll cute“, erzählen sie ihren Freundinnen, während sie Screenshots seines Tinder-Profils herumzeigen.
Der Nero der Antike war für sein turbulentes Liebesleben bekannt, welches von seinen Gegnern als ausschweifend und tabulos bezeichnet wurde. Kann man ihnen aber auch nicht verübeln: Mit 16 heiratete er die 13-jährige Octavia, der er einige Jahre später ein Verhältnis mit einem Sklaven andichtete, um seine neue Flamme heiraten zu können. Das fand wiederum das Volk nicht so toll, weil Octavia echt beliebt war. Also streute Nero Gerüchte über sie und schließlich wurde Octavia auf seinen Befehl auf eine Insel verbannt, wo ihr die Pulsadern aufgeschnitten und sie in heißem Dampf erstickt wurde.
Weil die Menschheit bei allem Blödsinn, den sie gerade anstellt, doch moralisch ein Stück weitergekommen ist, hätte der Neuzeit-Nero zu weitaus weniger drastischen Mitteln gegriffen. Frauen wird man heutzutage nämlich einfach los, indem man sie ghosted.
Ein Ende mit Schrecken
Nero, der Kaiser, hatte es bis zum 30. Lebensjahr geschafft, sich so richtig unbeliebt zu machen: seine Leibgarde wandte sich von ihm ab, keiner wollte ihm mehr Unterschlupf gewähren und er wurde zum Feind des Volkes erklärt. Den einzigen Ausweg sah er im Selbstmord und erstach sich selbst mit einem Dolch.
Gut, auch Neuzeit-Nero hätte es nicht leicht gehabt, mit seiner Helikoptermutter und den ganzen Erwartungen, die sie an ihn hätte. Aber zum Glück gehört es im Jahr 2020 zum guten Ton, zur Therapie zu gehen. Neros größte Probleme: Mit 30 ist er sich immer noch nicht sicher, ob er bereit für Commitment ist, er hat schon den dritten Sukkulenten in Folge ermordet (dabei sind die doch gerade so in!) und überlegt, ob er statt Gitarre doch lieber Bass spielen sollte.
Römische Kaiser in den 1960ern
Autor Kai Meyer hat das Gedankenexperiment, römische Kaiser in die Neuzeit zu katapultieren, ebenfalls angestellt. Im Audible Original Hörspiel "Imperator" stellen sie sogar eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar: Fast 2.000 Jahre nach ihrem Tod leben die Kaiser nämlich unter neuen Identitäten inmitten der modernen Gesellschaft der 1960er Jahre und ziehen im Geheimen die Fäden. Dabei haben sie nur ein Ziel: Wieder an die Macht zu kommen, um jeden Preis...