Hohe Fallzahlen, noch kein Ende beim Impfziel bekannt, kaum absehbare wirtschaftliche Folgen – die Nachrichten drücken auf die Stimmung. Auch die soziale Isolation im Lockdown setzt uns zu. Das ist belastend, und vieles in diesen Zeiten ist auch beängstigend. Bei einigen Menschen wird dieses Gefühl der Angst selbst zum Problem.

Der Angst etwas entgegensetzen

Der Psychologe Reiner Müller berichtet aus seinem Berufsalltag als Angsttherapeut. Da zeichnet sich in der Krise ein düsteres Bild ab. Doch zum Glück sind wir Ängsten nicht hilflos ausgeliefert. Es gibt wirksame therapeutische Maßnahmen, aber auch ganz einfache Strategien für den Alltag, um die seelische Widerstandskraft zu stärken.

Hast du den Eindruck, dass die Menschen in der Krise stärker von Ängsten belastet werden?
Ja, ich habe mehr zu tun als in normalen Zeiten. Meinen Kollegen in unserer Gemeinschaftspraxis geht es ebenso. Beim ersten Lockdown 2020 gab es einen leichten Einbruch, wahrscheinlich weil die Leute Angst hatten, zum Therapeuten zu gehen. Aber danach hat die Nachfrage zugenommen und jetzt bin ich stark ausgelastet.

Kommen die Menschen zu dir, weil sie Angst vor Corona haben?
Das ist ganz unterschiedlich. Einige haben tatsächlich Angst vor Corona. Oft weitet sich diese Angst auch auf andere Krankheiten aus: Die Menschen haben Angst vor Krebs, vor einem Herzinfarkt, vor dem Tod. Die Ausnahmesituation, in der wir uns befinden, führt aber auch dazu, dass sich andere Ängste und psychische Probleme ebenfalls verstärken.

Wie äußert sich das?
Es fängt damit an, dass häufiger Panikattacken auftreten, die scheinbar aus heiterem Himmel kommen. Aber auch ganz spezifische Ängste kommen verstärkt wieder hoch, etwa Platzangst, Höhenangst, Angst vorm Autofahren. Eine ganz große Rolle spielt auch das Thema Einsamkeit, vor allem bei Menschen, die allein leben.

Außerdem können einige meiner Klientinnen und Klienten, die ich früher bereits erfolgreich behandelt habe, nun ihre Bewältigungsstrategien nicht mehr anwenden. Wer beispielsweise gelernt hat, seine generalisierten Ängste durch Saunabesuche oder Treffen mit Freunden zu bewältigen, kann darauf jetzt nicht mehr zurückgreifen.

Leider versuchen viele Menschen, mit Drogen oder anderen Suchtmitteln ihre Ängste und Belastungen in den Griff zu bekommen. Daher haben auch Suchtprobleme stark zugenommen.

Du sprichst von Ängsten, Panikattacken und generalisierten Ängsten. Was sind die Unterschiede?
Es gibt zum einen die spezifischen Ängste, die sogenannten Phobien. Sie treten in bestimmten Situationen auf, beispielsweise in der U-Bahn oder im Fahrstuhl. Es gibt auch Tierphobien, zum Beispiel die Angst vor Hunden. Auch die sozialen Ängste gehören in diese Gruppe, etwa wenn ich Angst habe, vor vielen Menschen zu sprechen.

Dem gegenüber stehen die sogenannten generalisierten Ängste. Die kommen scheinbar aus dem Nichts, ohne einen erkennbaren Auslöser bzw. Trigger. Ich bin allerdings der Ansicht, dass es auch hier einen Trigger gibt, der nur nicht erkannt wird, beispielsweise das Wetter, eine bestimmte Temperatur oder bestimmte Lichtverhältnisse.

Ängste verstehen und überwinden

Auch Panikattacken treten oft sehr plötzlich auf. Sie können mit oder ohne Auslöser auftreten. Sie können etwa mit bestimmten Orten, wie großen Plätzen, verbunden sein. Typisch für Panikattacken sind sehr heftige körperliche Reaktionen: Zittern, Herzrasen, Druck in der Brust oder auch eine zu schnelle Atmung bis hin zur Hyperventilation. Betroffene haben manchmal das Gefühl, sie müssten sterben.

Das klingt ja schrecklich. Wie übersteht man so eine Panikattacke?
Zunächst einmal die gute Nachricht: An einer Panikattacke stirbt man nicht, auch wenn man das in diesem Moment glaubt. Spätestens wenn die Stresshormondepots leer sind, kommt der Körper von allein wieder zur Ruhe. Das kann allerdings bis zu acht Stunden dauern.

Viele Menschen gehen irrtümlich davon aus, sie müssten sich bei einer Panikattacke hinlegen, sich ausruhen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Bewegung hilft! Die Panik bereitet den Körper ja auf Flucht oder Kampf vor. Damit die Stresshormone schnell abgebaut werden, sollte man im Raum auf- und abgehen, eine Runde um den Block laufen oder Sport treiben.

Es kann außerdem helfen, jemanden anzurufen. Die Person muss gar nichts von der Panikattacke erfahren. Oft beruhigt es schon, eine vertraute Stimme zu hören.

Was ist mit anderen Formen der Angst: Sich beispielsweise vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu fürchten, ist ja durchaus vernünftig. Ab wann wird die Angst selbst zum Problem?
Die Angst wird dann zum Problem, wenn mir entweder die Menschen in meinem Umfeld die Rückmeldung geben, dass ich mich seltsam verhalte, oder wenn ich dies selbst bemerke. Mitunter sind Ängste beispielsweise verbunden mit einer sogenannten Depersonalisierung, dem Gefühl, „neben sich zu sehen“.

Auch Vermeidungsverhalten oder zwanghaftes Verhalten können auftreten und zur Belastung werden. So ist es zwar sinnvoll, auf Hygiene zu achten, aber wenn ich mir 50-mal am Tag die Hände wasche und deswegen kaum noch aus dem Badezimmer herauskomme oder wenn die Angst unerträglich wird, sollte ich mir professionelle Hilfe holen.

Wie hilfst du deinen Klientinnen und Klienten?
Ich nutze verschiedene Methoden. Generell geht es im ersten Schritt meist um Ressourcenstärkung: Ich aktiviere die innere Stärke und bringe den Menschen bei, wie sie in einer belastenden Situation in einen guten Zustand gehen können. Das hilft oft schon. Im zweiten Schritt geht es dann darum, die tieferliegenden Ursachen der Ängste herauszufinden und aufzulösen.

Das Ziel ist also erst einmal, einen ruhigen, gelassenen Zustand zu erreichen?
Genau. Denn das ist die wichtige Grundlage, um mit Ängsten umzugehen: Wo Ruhe und Gelassenheit sind, wo innere Stärke ist, dort kann keine Angst sein.

Wie lässt sich so ein Zustand erreichen?
Ich arbeite unter anderem mit einer Ankertechnik aus dem NLP, dem Neurolinguistischen Programmieren. Bei dieser Technik sollen sich Menschen einen Moment in Erinnerung rufen, in dem sie sich sicher gefühlt haben und stolz waren, weil sie etwas geschafft haben. Sie versetzen sich noch einmal in diesen Zustand und beschreiben, was sie sehen, hören, fühlen, schmecken und riechen. Dieser Zustand wird dann verankert und verbunden mit einer Bewegung, vielleicht auch mit einer Farbe, einem Wort.

Wo die Seele auftankt

Meine Klientinnen und Klienten bekommen dann die Hausaufgabe, dieses Gefühl – etwa das „gelbe“ Glücksgefühl nach der bestandenen Prüfung – ein-, zweimal täglich wieder wachzurufen. Das geht immer schneller, immer automatischer. Irgendwann müssen sie nur mit dem Finger schnippen, dann ist das gute Gefühl da. Das kann in Situationen, in denen man sich unruhig fühlt, bereits eine große Hilfe sein. Mithilfe von Hypnose lässt sich dieser Zustand noch weiter vertiefen.

Wie funktioniert Hypnose?
Wer hypnotisiert ist, befindet sich in einem Zustand der Trance. Trance ist eine fokussierte Aufmerksamkeit. Das kennen wir auch aus dem Alltag, etwa wenn wir während eines Films alles um uns herum vergessen oder wenn wir mit dem Auto von A nach B fahren und uns am Ziel gar nicht mehr an die Fahrt erinnern. Das sind Trancezustände.

Mit Hypnose sanft gegen Angst

Ein Hypnotiseur führt einen solchen Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit gezielt herbei. Dazu ist es wichtig, dass die Person, die hypnotisiert wird, körperlich und auch geistig entspannt. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sie Vertrauen zum Hypnotiseur hat. Irgendwann schaltet dann das Bewusstsein ab und wir haben einen guten Zugang zum Unterbewusstsein. Dann lassen sich beispielsweise positive Glaubenssätze installieren, etwa „Ich besiege die Angst“, „Ich bin gesund“ oder „Es geht mir gut“, natürlich immer passend zum jeweiligen Thema.

Hypnose-Anwendung - Blockaden lösen, Selbstbewusstsein stärken

Kann das auch gegen den eigenen Willen geschehen?

Nein. Es lässt sich nichts suggerieren, was den Werten der hypnotisierten Person widerspricht. Dass jemand unter Hypnose den Auftrag bekommt, eine Bank auszurauben – das gibt es nur im Film! Würde jemand so etwas versuchen, dann würde die Trance verflachen. Das Unterbewusstsein passt da auf. Die Person würde wieder zu Bewusstsein kommen und sich gegen die Suggestion wehren.

Hypnose-Anwendung: Mich selbst lieben lernen

Kann ich Hypnose auch allein anwenden?
Ja, man kann Hypnose selbst anwenden, selbst erlernen. Hörbücher und Audiotrancen helfen bei verschiedenen Themen, etwa zur Beruhigung oder beim Einschlafen. Auch für Kreativität, Erfolg, Fokussierung oder Konzentration können wir sehr wirksam Hypnosen einsetzen, die ein Fremder eingesprochen hat, der uns nicht kennt.

Selbstbewusstsein und innere Stärke mit Hypnose

Was hingegen allein nicht geht, ist die Suche nach Ursachen in der individuellen Lebensgeschichte, denn dazu ist eine interaktive Hypnose nötig.

Können wir selbst etwas tun, um die Lockdownphase angstfrei durchzustehen?
Ja. Ganz wichtig ist es zunächst einmal, den Tagesablauf zu strukturieren. Auch wenn ich nicht zur Schule oder zur Arbeit gehe, sollte mein Tag eine gewisse Struktur haben.

Dann gilt es, etwas dafür zu tun, die eigenen Ressourcen zu stärken, beispielsweise mit Atemtechniken, mit Meditation oder Yoga. Auch Sport ist sehr hilfreich. Wichtig ist es außerdem, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, per Telefon oder Videochat.

Wie bereits erwähnt: Wo Ruhe, Entspannung und Gelassenheit sind, kann keine Angst sein. Um uns vor Ängsten zu schützen, sollten wir etwas Gutes für uns tun. Wir sollten unsere Resilienz, also die innere Widerstandsfähigkeit, und auch unsere Selbstachtsamkeit stärken.

Was ist Selbstachtsamkeit?
Selbstachtsamkeit bedeutet, auf meinen Körper, meine Gefühle und meine Werte zu hören. Gerade Menschen, die viel an andere denken, fällt das oft schwer. Sie ignorieren es dann beispielsweise, wenn ihr Körper ihnen signalisiert, dass es Zeit ist, eine Pause zu machen. Auf Dauer geht das meistens nicht gut.

Immunbooster Selbstliebe

Viele haben außerdem Schwierigkeiten, Nein zu sagen. Dahinter steckt oft die Angst, dass sich andere bei einem Nein von mir abwenden, mich nicht mehr lieben. Doch diese Angst ist unbegründet, weil jeder Mensch mal eine Bitte abschlägt. Wenn ich Nein sage, dann sage ich Ja zu mir. Ich sage Ja zu meinen Werten, zu meinen Bedürfnissen, zu meinen Gefühlen, zu meinen Zielen. Das ist Selbstachtsamkeit.

Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben. Wenn ich mit mir im Reinen bin, wenn ich innere Stärke habe, wenn ich gesund bin, dann kann ich mich auch um andere kümmern.

Ist es möglich, diese Selbstachtsamkeit zu trainieren?
Ja, dafür gibt es eine gute Übung: das Glückstagebuch. Das Glückstagebuch hilft uns, unsere Welt anders wahrzunehmen. Es zu führen, ist ganz einfach.

Ich schreibe mir jeden Abend fünf Dinge auf: zunächst eine Sache, für die ich dankbar bin. Das kann etwas scheinbar Selbstverständliches sein: Ich bin dankbar, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, dass ich lesen und schreiben kann oder dass ich meinen Partner, meine Partnerin habe.

Self Care - Du bist wertvoll

Dann notiere ich mir noch vier Dinge, die an diesem Tag schön waren. Auch hier geht es nicht um Großes, sondern um die vielen Kleinigkeiten, aus denen das Leben besteht: das Lächeln eines anderen, eine Blume, die mir irgendwo aufgefallen ist, der Kaffee am Morgen oder ein Telefonat mit einem lieben Menschen.

Wer möchte, kann es sogar noch ausbauen, sich beispielsweise morgens die Frage stellen: Worauf freue ich mich an diesem Tag? Am Ende der Woche ist eine Wochenzusammenfassung möglich: Was habe ich in dieser Woche gelernt? Wem habe ich geholfen? Was habe ich für meine persönlichen Ziele getan? Was hat mir in dieser Woche gutgetan? Was habe ich für die Stärkung meiner Gesundheit unternommen?

Und das Glückstagebuch bewirkt wirklich etwas?
Ja, auf jeden Fall. Unsere Wahrnehmung ändert sich dadurch fundamental. Ich selbst habe vor einigen Jahren mit einem Glückstagebuch angefangen. Als ich dann einmal dachte, ich hätte ein wirklich schlimmes Jahr hinter mir, habe ich mir noch mal mein Glückstagebuch durchgelesen und festgestellt: Nein, es war ein Jahr mit tollen Momenten!