Fritz Haarmann mordete vor fast 100 Jahren – warum haben sich ausgerechnet seine Taten so tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, dass noch heute fast jeder etwas mit dem Namen anfangen kann?

Ich glaube, es gibt einen faktischen und einen mystischen Grund. Der faktische ist, dass der Serientäter immer ein schwarzes Faszinosum ist. Und Haarmann galt nun mal lange als der deutsche Rekordhalter. Der andere, mystische Grund, hat ganz viel mit diesem Lied zu tun, das ich seit meiner Kindheit kenne: „Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir.“ Die Leute, mit denen ich jetzt wegen des Buchs spreche – die kennen das alle.

Liegt diese Bekanntheit auch an der Art der Morde, der sexuellen Komponente?

Das ist eher verstörend und den meisten Leuten ist auch gar nicht klar, dass Haarmann im homosexuellen Milieu gemordet hat. Es ist natürlich auch extrem grausam, dass er diese Jungs getötet hat, indem er ihnen den Kehlkopf rausgebissen hat. Ob das wirklich zum Faszinosum beiträgt, wage ich zu bezweifeln.

Sie hat besonders die politische Dimension des Falls interessiert. Können Sie das ein bisschen erläutern?

Anfang der 1920er Jahre wurde die junge Weimarer Republik von Links- und vor allem von Rechtsextremen herausgefordert. An Demokratien wird immer bezweifelt, dass sie die Sicherheit ihrer Bürger gewährleisten können. Auch jetzt in der Corona-Krise haben wir diese Debatte letztendlich wieder. Damals in Hannover stellte sich die Frage ganz konkret anhand des Falles Haarmann. Da verschwanden dauernd Jungs, über zwei Jahre lang, und die Polizei fand den Täter nicht. Es gab Leute, die sich fragten: Hätte die Polizei unter dem Kaiser nicht anders durchgegriffen?

Haarmann

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Welche Parallelen sehen Sie zu den anbrechenden 2020er Jahren?

Solche Vergleiche sind immer schwierig. Wir haben heute eine reife Demokratie und gleichwohl haben wir eine Herausforderung von rechts, auch durch Rechtsterrorismus. Das ist nicht so stark wie damals, aber es sind eben Anfänge und da muss man sehr genau hinschauen. Um dann Schlüsse zu ziehen, was wir heute anders machen können.

Lahnstein erinnert an Gedeon Rath aus „Babylon Berlin“ – ein junger, traumatisierter Kriegsrückkehrer, der an die Demokratie glaubt. War die Serie eine Inspirationsquelle für Sie?

Das wäre ein großer Zufall. Ich bin kein Seriengucker. Ich habe das nur mal 20, 30 Minuten lang angeschaut, um mir den Look anzusehen. Ich hatte gelesen, dass die Ausstattung authentisch und gut gemacht sei.

Wer war Haarmann Ihrer Meinung nach – ein raffinierter Killer, der sich geschickt verstellte? Oder letztendlich ein unzurechnungsfähiger, kranker Mann?
Ich glaube, dass er beides war. In Haarmann wohnten verschiedene Personen. Er war ein Opfer seines Vaters, des Militärs, auch der Armut. Auf der anderen Seite war er ein brutaler Täter. Ob Haarmann im pathologischen Sinne krank war, kann ich nicht bewerten. Er war ein Kindskopf, was bei einem Mörder komisch klingt. Seine Taten hatten für ihn etwas Spielerisches. Bei den Vernehmungen sagte er über seine Opfer: „Ach, das waren doch nur Puppenjungs“. „Puppenjungs“ war damals der Begriff für männliche Prostituierte. Als hätte er sagen wollen: „Das kann doch nicht schlimm sein, wenn ich einer Puppe den Kehlkopf rausbeiße.“ Die Taten waren monströs, aber er wirkte nicht wie ein Monster. Diese Vielschichtigkeit ist das Faszinierende an Haarmann.

Sie kamen über den Film „Der Totmacher“ an den Stoff. Was wollten Sie im Buch ganz anders machen?

Der Film kam 1995 raus und ich hatte nur noch eine vage Erinnerung daran, dass ich Götz George als Fritz Haarmann phantastisch fand. Als ich mit dem Roman begonnen habe, habe ich mir den Film bewusst nicht noch einmal angeschaut. Ich wollte meinen Haarmann beschreiben, wie ich ihn sehe. Darum habe ich mir den Film erst wieder angesehen, als das Manuskript fertig war. Ich war wirklich geflasht und begeistert, wie Götz George diesen Haarmann eingefangen hat. Weil er genau der Haarmann war, den ich aufgrund der Protokolle und Zeitzeugenberichte vor Augen gesehen hatte. George hat das einfach phantastisch umgesetzt. Es gibt darum eine große Übereinstimmung.

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Im Mittelpunkt Ihres Romans steht nicht der Mörder Fritz Haarmann, sondern der Ermittler Robert Lahnstein. Ist diese Figur fiktiv?

Ja. Es gibt eine Anregung aus der Realität. Als dem Polizeipräsidenten klar wurde, dass seine Polizisten den Fall nicht lösen können, hat er einen Kommissar Lange aus Bochum abgeworben. Dieser Kommissar war dann einer von denen, die im Fall ermittelt haben. Er hat aber tatsächlich keine so große Rolle gespielt. Ich fand die Tatsache interessant, dass jemand von außen nach Hannover kam, der natürlich nicht gerade willkommen geheißen wurde. Auf dieser Basis habe ich Robert Lahnstein komplett erfunden.

Haarmann arbeitete als Polizeispitzel. Ist das der Grund, warum er so lange ungehindert morden konnte – oder steckte schlichte Inkompetenz der Polizei dahinter? Hinweise gab es ja genug.

Es gab einen ganzen Strauß an Gründen, das war vielleicht der wichtigste. Einige Polizisten konnten mithilfe von Haarmanns Informationen Verbrechen verhindern oder aufklären. Das hat ihre Karrieren befördert und darum haben sie ihn gedeckt. Eine weitere große Rolle spielt sicher, dass Informationen aus dem extrem tabuisierten Strichermilieu nicht so leicht nach draußen drangen. Einige Leute empfanden sogar eine gewisse Genugtuung, denn nach deren Diktion waren das „nur Schwule“. Wären statt dieser Jungs Bürgerstöchter verschwunden, hätte Haarmann wohl nicht so lange ungehindert töten können.

Eine Rolle spielt sicher auch, dass der Erste Weltkrieg noch nicht lange zurücklag. Die Männer kamen völlig verroht aus den Schützengräben zurück, die Menschen hatten gehungert, danach hatte die spanische Grippe gewütet. Damals galt ein einzelnes Menschenleben nicht so viel wie heute, wo wir die komplette Wirtschaft lahmlegen, um einzelne Leben zu retten.

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Haarmann hatte einen Kompagnon, mit dem er eine intime Beziehung hatte, Hans Grans. Warum ist diese Tatsache so gut wie vergessen?

Das ist für mich auch ein Rätsel, zumal Hans Grans ja noch lange gelebt hat. Ursprünglich war auch er zum Tode verurteilt, aber dann hat Haarmann ihn entlastet und so gerettet. Hans Grans ist ins Gefängnis gewandert, hat das Konzentrationslager überlebt und bis in die 70er Jahre hinein in der Nähe von Hannover gelebt. Er hat Interviews gegeben, doch nichts davon ist hängengeblieben. Ich denke, es lag daran, dass die ganze Aufmerksamkeit Fritz Haarmann galt. Hans Grans spielte eine Rolle, aber er war selbst nicht gewalttätig. Vielleicht hat er etwas gewusst, vielleicht auch etwas befördert – aber er war kein Mittäter und ist darum vergessen worden.

Vielleicht wurde er vergessen, weil eine Liebesbeziehung nicht in das Bild vom brutalen Killer passt.

Ich finde, Grans hätte in Erinnerung bleiben müssen als jemand, der das Herz von Fritz Haarmann berührt hat. Haarmann hat Hans Grans wirklich geliebt. Er hat ganz zärtliche Sätze in den Vernehmungen über ihn gesagt. Das ist ja das Erstaunliche, dass dieser brutale Gewalttäter der Liebe fähig war. Obwohl Hans Grans ihn wahnsinnig schlecht behandelt hat, hat er sein Herz und seine Seele berührt.

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