2006 haben Sie geschrieben, Angela Merkel habe keine Vorstellung von einem „Danach“, sie sei „verdammt zu totaler Politik“. Jetzt ist „Danach“. Wie haben Sie sie in den letzten Wochen erlebt? 

Entspannt. Ein großer Teil des Drucks war bereits von ihr abgefallen, den die Kanzlerschaft ja bedeutet. Sie hat natürlich intensiv verfolgt, was im Wahlkampf passiert. Aber ich glaube, sie hat es genossen, nicht mehr die Hauptrolle zu spielen. Natürlich ist sie traurig über das Ergebnis und den Zustand bei der Union. Aber Erleichterung und ein bisschen Vorfreude auf die Zeit danach – das war ihr schon anzumerken.

Angela Merkel blieb oft vage, unklar, erklärte sich nicht. Ihre These ist, dass sie dieses Verhalten als DDR-Bürgerin erlernt habe und dass sie sich gerade deswegen so lange an der Macht halten konnte. Erklären Sie das doch bitte kurz.

Angela Merkels Vater war Pfarrer und wurde vom System misstrauisch beäugt. Sie bekam also früh eingeschärft, dass sie das, was am Tisch zu Hause besprochen wurde, nicht verbreiten durfte. Das hat sie internalisiert, es gehörte zu ihrem Programm: Nicht zu viel sagen, nichts riskieren. Das hat ihr unheimlich geholfen. Denn in einer Mediendemokratie können einem die eigenen Worte paradoxerweise am gefährlichsten werden. Wir wollen eigentlich, dass diskutiert und gestritten wird. Aber wer etwas Falsches sagt, bekommt sehr schnell Schwierigkeiten und bringt Leute gegen sich auf. Dieses Spiel der Vorsicht und Zurückhaltung beherrschte Merkel so gut wie niemand sonst in den letzten Jahren. 

Die Methode Merkel

Angela Merkels Amtszeit war geprägt von vielen Krisen. In der Finanzkrise 2008 erwarb sie sich ihren Ruf als gute Krisenmanagerin. War sie das wirklich? 

Da muss man stark differenzieren. Deutschland kam sehr gut durch die Finanzkrise, die weltweit einen wahnsinnigen Wohlstandseinbruch verursacht hat. Über die Kurzarbeit, über die Abwrackprämie hat sie das gut gemanagt, so dass die einzelne Bürgerin, der einzelne Bürger die Krise am Portmonee gar nicht so sehr bemerkt hat. Übrigens mit der Hilfe ihres Koalitionspartners SPD: Die meisten dieser Gesetze kamen aus dem Finanzministerium von Olaf Scholz. Ihr schlechtestes Krisenmanagement war letztlich die Klimakrise. 

Für die Klimapolitik waren es 16 verlorene Jahre. Warum hat Angela Merkel – die die Berichte der Wissenschaftler kannte und ihnen auch glaubte – sich hier nicht stärker engagiert? 

Das ist der traurigste Punkt dieser Kanzlerschaft, eben weil sie das so früh erkannt hat. 2007 kam ein neuer Klima-Bericht der UNO heraus mit damals schon erschütternden Zahlen. Angela Merkel hat sich das sehr zu Herzen genommen. In Brüssel hat sie die Kolleginnen und Kollegen davon überzeugt, verbindliche Klimaziele für die EU auszusprechen. Kurz darauf war der G8-Gipfel in Heiligendamm, da hat sie weitergemacht. Sie konnte sogar George W. Bush ein kleines Zugeständnis aus den Rippen leiern. Dafür wurde sie groß gefeiert, die Bildzeitung nannte sie „die Klimakanzlerin“. In Grönland stand sie in leuchtend roter Jacke vor dem schmelzenden Gletscher, ein Bild von großer Symbolkraft. 

Was geschah dann?

Ein Jahr später kam die Finanzkrise und die große Enttäuschung. Die Energie- und Spritpreise stiegen. Da wollte sie den Deutschen nicht auch noch eine höhere Steuer zumuten. Sie hat sich von ihrer eigenen Politik abgewendet und das war, finde ich, der schwerste Fehler ihrer Politik. Das Verfassungsgericht hat ihr am Ende ihrer Amtszeit dafür das denkbar schlimmste Zeugnis ausgesprochen: Dass das, was hier versäumt wurde, verfassungsfeindlich ist, weil es die Freiheit der künftigen Generationen einschränkt.

Die Kanzlerin

Auch in der Corona-Pandemie hat Merkel keine gute Figur abgegeben, so die einhellige Meinung. Sie haben sogar geschrieben, Merkel hätte zurücktreten müssen. Ganz kurz: Was werfen Sie ihr vor?

Ich dachte, in dieser Krise, die uns alle Angst gemacht hat, ist sie die richtige Kanzlerin. Als coole, souveräne Wissenschaftlerin, die sie ist, hielt ich sie für gut gerüstet. Am Anfang vermittelte sie Sicherheit und ich glaube, die meisten haben ihr vertraut. Aber als es mit den Lockerungen losging, wurde es brüchig. Bei Auftritten machte sie einen nervösen Eindruck. Ich war überrascht, sie so zu sehen. Natürlich waren alle überfordert von der Krise und jeder hat zwischendurch seine Souveränität oder seine Fassung verloren. Sie darf das natürlich nicht, auch wenn ich es menschlich verstehen kann. Sie hätte hier eine andere Führungsfigur sein müssen. Viele Jahre lang war sie praktisch unangefochten als Bundeskanzlerin und hatte viel Macht akkumuliert. In der Coronakrise haben die Ministerpräsidenten mitgeredet und da zeigte sich, dass sie nicht die geschickte Verhandlerin ist, für die ich sie gehalten hatte.

Angela Merkel wurde oft vorgeworfen, dass sie sich allein für den Machterhalt interessiere. Sehen Sie das auch so?

Sie war schon sehr an ihrem Machterhalt interessiert. Sie hat relativ wenig Überzeugungen mitgebracht. Ich würde sagen, eine war ihre Leidenschaft für die Freiheit. Sonst hat sie tatsächlich immer auf die Umfragen geschielt. Wenn es wegen der Krisen nicht unbedingt nötig war, hat sie der Bevölkerung möglichst wenig zugemutet, sondern eher eine gebende Sozialpolitik verfolgt. Sie hat eigentlich nichts riskiert – außer 2015 während der Flüchtlingskrise.  Sonst war sie eine milde, vorsichtige Kanzlerin. Das hatte sicher damit zu tun, dass sie unbedingt wiedergewählt werden wollte. 

Bei wichtigen Themen wie den Menschenrechten, dem Bürokratie-Abbau, in der Klimapolitik, erkennen Sie ein Merkel’sches Muster: Auf einen idealistischen Start folgte eine rasche Kehrtwende. Weil sie den Deutschen nicht zu viel zumuten wollte?

Angela Merkel hat tatsächlich den Eindruck, dass die Deutschen ein zittriges, ängstliches Volk sind, dem man keine Lasten aufbürden kann. Danach hat sie ihre Politik ausgerichtet. Das ist erklärbar durch einen gewissen Schock, den sie erlebt hat. Solange sie in der DDR lebte, hielt sie die Bundesrepublik für ein sehr effizientes und funktionales Land mit einer dynamischen, risikobereiten Bevölkerung. Dann kam sie in der Bundesrepublik an und merkte, dass auch die Bundesdeutschen behäbig, vorsichtig, ängstlich sind. 

Machtverfall

Angela Merkel wurde oft als kalte Technokratin erlebt, die ihr Mäntelchen nach dem Wind der Umfragen hängt. In der Flüchtlingskrise war das anders. Haben wir da etwas von der „wahren“ Angela Merkel erlebt?

In der Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, wie wichtig ihr Freiheit ist. Aber sie hat sich da auch berührbar gezeigt. Man hat bei Angela Merkel häufiger gesehen, dass sie sich von den persönlichen Schicksalen berühren lässt. Ich glaube, dass auch das mit ihrer Herkunft zu tun hat. Das Pfarrhaus ihrer Kindheit stand auf dem Gelände eines Behindertenheims. Sie hatte mit diesen Menschen zu tun; zum Teil kamen sie auch ins Haus und haben mit der Familie gegessen. So hat sie sich sehr früh auseinandergesetzt mit schwachen Menschen, denen geholfen werden muss. Christliche Humanität wurde in ihrem Elternhaus stark gelebt. 

In der Flüchtlingskrise reagierte sie ungewohnt spontan.

Ja, einerseits war sie so vorsichtig, aber in erschütternden Momenten hat sie relativ spontan entschieden. Das war auch so beim Reaktorunglück von Fukushima. Die Bilder der Menschen, die dort fliehen mussten, haben sie sehr berührt. Sie, die Physikerin, die immer der Atomkraft vertraut hat, hat dann gesagt: Wir steigen jetzt aus. Auch wenn irgendwo Krieg herrschte, war sie empfänglich für das Leid der Menschen. Wenn sie damit umgehen musste, war sie aber immer so ein bisschen eckig. Wenige Wochen vor „Wir schaffen das“ begegnete sie in Rostock einem Flüchtlingsmädchen. Da versuchte sie ihr erst die Gesetzeslage zu erklären. Aber dann fing das Mädchen an zu weinen. Merkel versuchte, zu trösten und alles wurde ein bisschen krampfig. Gleichwohl hat diese Begegnung in ihr gearbeitet. Sie ist in ihre Entscheidung miteingeflossen, denke ich, als es wenig später darum ging, diesen Leuten in Not eine Perspektive zu geben.

Ihr „Wir schaffen das“ ist ein Satz, der bleibt. Die einen feierten sie dafür, die anderen hassten sie. Hat sie durch ihre Flüchtlingspolitik letztlich den Rechtsextremismus in Deutschland befeuert? 

Das würde ich so nicht sagen. Ich finde, dass das eine große Tat war. Dass sie relativ spontan entschieden hat, wir lassen die Grenzen offen für diese Menschen, die in Ungarn festsitzen – das war für den Westen ein sehr wichtiges Signal: Wir stehen zu unseren Werten, zur Freiheit, zur Offenheit. Gerade für Angela Merkel, die selbst hinter Mauern gelebt hat, war das wichtig. Es wurde aber zur Zäsur in ihrer Kanzlerschaft. Bis August 2015 war sie unangefochten, eine Art Königin von Deutschland. Dann kam diese große Tat und es war vorbei mit der Ruhe. Die biedermeierliche Stille brach auf. Ein Teil der Bevölkerung sagte: Wir wollen keine Zuwanderung, wir wollen keine fremden Menschen in unseren Städten und Dörfern haben. Das hat die Menschen sehr gespalten. Ich würde aber nicht sagen, dass das die Schuld von Angela Merkel war. Es war eine notwendige und richtige Tat, durch die sich Strömungen in der Gesellschaft zeigten, die schon vorher da waren. Das hat die AFD stark gemacht, was ein trauriges Ergebnis ihrer Kanzlerschaft war. Aber ich glaube, es war notwendig und macht ihre Politik nicht falsch. Das letzte Wahlergebnis hat ja auch gezeigt, dass es für die AFD nicht nur nach oben geht. Insgesamt war es immer eine Minderheit, die sehr lautstark, vehement und hasserfüllt gegen die Flüchtlingspolitik auftrat.  

Die Patin

Viele Wähler hatten das Gefühl, Merkel verkörpere Stabilität in einer Zeit des Populismus. Haben Putin, Trump und Boris Johnson letztlich Merkels Macht gesichert? 

Gesichert wäre mir zu viel gesagt. Aber es hat sicher zu ihrem guten Ruf beigetragen. Wenn man sich anschaut, was zum Beispiel gerade in Österreich passiert: Dagegen war Angela Merkel ja wirklich eine Säule der Verlässlichkeit und Seriosität. Dass Angela Merkel korrupt sein könnte, ist für mich gar nicht vorstellbar. 16 Jahre lang haben wir eine seriöse Bundeskanzlerin erlebt, die für Stabilität stand. Das machte sie phasenweise zu einer Lichtgestalt des liberalen Westens, zur Gegenfigur zu Populisten wie Trump, Johnson oder Orbán. 

Wie hat sie sich außenpolitisch geschlagen? 

Auch da gibt es eine frühe und eine spätere Merkel. Sie ist vehement gestartet mit dem Programm Freiheit, Menschenrechte – die Werte der liberalen Demokratie. Sie hat den Dalai Lama ins Kanzleramt eingeladen. Das passte der chinesischen Regierung überhaupt nicht, aber das war ihr egal. Auch Putin gegenüber ist sie relativ harsch aufgetreten und hat ihn immer wieder ermahnt, die Menschenrechte einzuhalten. Wenn sie in Moskau war, hat sie oppositionelle Journalisten und Regimegegner getroffen. Aber auch da hat sie schnell gemerkt, dass das seinen Preis hat. China ist wichtig für die Exporte und damit für den deutschen Wohlstand. Daraufhin ist sie vorsichtiger geworden. Eine gute Rolle hat sie dagegen im Urkraine-Konflikt gespielt. Bei der Verhandlung in Minsk hat sie immerhin einen brüchigen Waffenstillstand ausgehandelt, das war schon eine gute Leistung. 

Was hat sich für Frauen in Deutschland geändert unter Angela Merkel?

Viel, besonders in der ersten Legislaturperiode mit ihren großen gesellschaftlichen Reformen: Elternzeit, Elterngeld, die Garantie des Kita-Ausbaus. Das kam vor allem von Ursula von der Leyen, die Merkels volle Rückendeckung hatte. Dann das neue Scheidungsrecht, das verheirateten Frauen die Sicherheit nimmt, dass sie auch im Falle einer Trennung immer versorgt werden. Das war ein starker Ansporn, berufstätig zu werden. Ich glaube, dass das wichtige, sinnvolle Gesetze waren, die sich auf den Alltag vieler Frauen auswirken. 

Frauenrechtlerinnen waren trotzdem enttäuscht von ihr. 

Merkel wollte sich mit dem Thema nicht so stark identifizieren. Sie sah sich immer in erster Linie als Bundeskanzlerin und Mensch, nicht als Frau oder Ostdeutsche. Sie hat ein für alle Mal gezeigt, dass natürlich auch eine Frau Bundeskanzlerin sein kann. Jetzt ist es eher an ihrem Nachfolger, zu beweisen, dass er es so gut kann wie sie. Sie hat für sich auch nie in Anspruch genommen, dass sie als Frau anders behandelt werden müsste. Politik ist hart, aber das war für sie kein Problem. Sie hat gemacht, was notwendig war – und das hatte nichts mit Geschlechterrollen zu tun.

Was bleibt außerdem an Positivem, was hat Angela Merkel gut gemacht?

Der große Signalsatz war ihr „Wir schaffen das“. Ich finde, dass das eine große Tat war, auch wenn sie sich hier auch leider wieder von ihrer eigenen Politik abgekehrt hat, indem sie die Grenzen dann doch faktisch geschlossen hat. Sonst kann man sagen, dass 16 Jahre Stabilität schon eine große Leistung waren. Daran hatten natürlich viele ihren Anteil, auch ihre Minister, die Gewerkschaften, die Bürgerinnen und Bürger. Der Erhalt des Wohlstands in schwierigen Zeiten, trotz Finanzkrise und Corona, dass die meisten Menschen in Deutschland ein gutes Leben führen können – all das sorgt dafür, dass die meisten Menschen die Ära Merkel wohl persönlich in guter Erinnerung haben können.

Es soll eine Angela Merkel geben, die privat humorvoll und in Hintergrundgesprächen leidenschaftlich sein kann. Haben Sie sie so erlebt?

Ich habe sie oft so erlebt. Ich saß viel in diesen Hintergrundgesprächen und habe sie auf ihren Auslandsreisen begleitet. Ich hatte das Gefühl, ich kenne eigentlich zwei Angela Merkels. In kleinen Runden, wo nichts nach außen dringen durfte, da war sie sehr lebendig. Klug sowieso, aber auch lustig. Oft dachte ich, wenn sie das nach außen tragen würde, hätten viele Bürger einen ganz anderen Eindruck von der Bundeskanzlerin. Aber diese Seite von sich wollte sie nicht zeigen, was eigentlich rätselhaft bleibt. Für mein Buch habe ich mir viele alte Fotos aus ihrer Kinder- und Jugendzeit angeschaut. Es gibt nicht viele, aber man sieht doch eine sehr fröhliche, lebendige, lustige Frau. Das ist die private Angela Merkel. Die öffentliche ist eben ganz anders. 

Wie hat sie selbst sich verändert in diesen 16 Jahren?

Gar nicht so sehr. Ich finde, das ist auch eine Leistung. Die Männer, die solche hohen Posten hatten, sind mit der Zeit irre eitel geworden. Die haben sich selbst verstaatlicht. Schröder ist so ein Fall. Oder Joschka Fischer als Außenminister. Diese Eitelkeit und Erstarrung in dieser massiven Bedeutsamkeit war manchmal schwer zu ertragen. Das hat sie nicht gemacht. Natürlich gibt es Spuren des Verschleißes, es ist ja ein wahnsinnig hartes Amt. Aber sie ist normal und auch bescheiden geblieben. Damit setzt sie einen Maßstab. 

Als Hörende erleben wir Angela Merkel durch Ihre Brille und übernehmen ein Stück weit Ihre Meinung. Damit tragen Sie eine große Verantwortung. Wie gehen Sie damit um?

Indem ich es mir immer wieder bewusst mache. Mir war immer wichtig, dass Hörende und Lesende sich sicher sein können, dass ich Angela Merkel immer unabhängig gegenübertrete, niemals als Freund oder Feind. Ich habe einen kühlen, distanzierten Blick auf die Kanzlerin und versuche nicht, ihr menschlich oder politisch nahezukommen. Das war mit ihr leicht, und das fand ich immer angenehm. Sie hat zu mir und meinen Kolleginnen und Kollegen eine professionelle Distanz eingehalten – im Unterschied etwa zu Schröder. Dieses Kumpelhafte, wo man noch einen miteinander säuft, dieses Auf-die-Schulter-hauen – das habe ich mit Schröder selbst nicht erlebt, aber ich habe es bei anderen gesehen. Sowas gab es bei Angela Merkel überhaupt nicht und das war mir sehr recht. Wichtig war mir auch, dass ich nie als Dirk Kurbjuweit zu Hintergrundgesprächen oder mit auf Angela Merkels Reisen gegangen bin, sondern weil ich eine bestimmte Rolle beim SPIEGEL habe. Es geht immer um den SPIEGEL, nicht um mich persönlich.