Neben eigenen Romanen hat Gert Heidenreich als Hörbuch-Sprecher zahlreiche Texte anderer Autoren eingelesen, zum Beispiel J.R.R. Tolkiens "Der Herr der Ringe".
Audible Magazin: Herr Heidenreich, mit der Verfilmung der Herr der Ringe-Trilogie erreichte die Begeisterung für Tolkiens Fantasiewelten 2001-2003 seinen Höhepunkt. Tolkien als Mediävist ließ sich von den Mythen der Vorzeit, u.a. durch die isländischen Sagas inspirieren. Eigentlich also ein Revival der nordischen Heldenlieder. Auch Hexen, Vampire und… Halbgötter erobern sich ihren Platz in der Gegenwartskultur zurück, z.B. in Stephanie Meyers Bis(s)-Reihe oder der aktuellen Thor-Verfilmung. Wie kommt es, dass diese neuen alten Helden gerade Kultstatus genießen?
Gert Heidenreich: In den Mythen und den mythischen Gestalten sind die uralten Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste der Menschheit aufgehoben. Sie bleiben gültig, und vor allem in Zeiten, in denen man der gepriesenen menschlichen Vernunft mit gewissem Recht misstraut (siehe Atomtechnik), kommt das Unheimliche und Unbegreifliche zum Zug. Das geht einher mit dem Bedürfnis nach Metaphysik. Außerdem ist der Mythos unkompliziert. In ihm sind, anders als in der Realität, Gut und Böse sauber getrennt, die Strafen drakonisch, die Belohnungen riesig – doch am Ende stellt sich das Gefühl ein, dass wir es in unserer verworrenen Gegenwart doch ziemlich gut haben. Was will man mehr?
Tolkien erzählt uns eine große Geschichte über Freundschaft, Beistand und Solidarität. Das, zum Beispiel, können junge Leser erfahren. Und Ältere können lernen, was sie alles versäumt haben…
Gert Heidenreich
Audible Magazin: Sie haben die Tolkien-Romane Die Kinder Húrin, Der Hobbit und die zwei Teile "Die Rückkehr des Königs" sowie "Die zwei Türme" aus der Herr der Ringe-Trilogie als Hörbuch gesprochen. Welches der Hörbücher ist Ihr persönlicher Favorit und warum? Gert Heidenreich: Eindeutig „Der Hobbit“! In diesem Buch lässt Tolkien schon alle Themen und Sujets anklingen, die dann im „Herrn der Ringe“ breit erzählt werden. Und hier ist Tolkien ganz und gar Brite: Humorvoll, versponnen, hintergründig, ironisch, von überbordender Phantasie und voller erzählerischer Hinterlist. Wunderbar! Hier ist Tolkien ein wahrer Sohn der Shakespeare-Nation.
Audible Magazin: Der ersten Teil des Herr der Ringe Hörbuchs „Die Gefährten“ las Achim Höppner, - Gandalfs deutsche Synchronstimme – mit dem Sie gemeinsam das Theater in der Kreide gründeten. Nach seinem Tod entschied sich der Hörverlag für Sie als Sprecher. Eine schwierige Nachfolge? Gert Heidenreich: Ja. Vor allem, weil ich natürlich den Freund (seit Studientagen) in der Fortsetzung seiner Arbeit ständig vermisst habe. Ich lief ja gleichsam in seinen großen Fußstapfen. Zum andern, weil es darum ging, Achims Anlage des Ganzen fortzuführen, ihn aber nicht zu imitieren. Also etwas Eigenes daraus zu machen und zugleich Achims Eigenes darin weiter leben zu lassen. Irgendwann in der Vorbereitung hatte ich das Gefühl, dass ich so weit war, und ich hoffe, es hätte ihm gefallen. Seine Frau Eike hat mich ermutigt, die Aufgabe zu übernehmen. Das war entscheidend. Audible Magazin: Hand aufs Herz. Wie gut kannten Sie sich vor dem Einlesen in Mittelerde aus? Gert Heidenreich: Gar nicht. Ich hatte den „Herrn der Ringe“ als Student angefangen zu lesen und nach etwa fünfzig Seiten weggelegt. Hatte dann mehr Lust auf Carlos Castaneda, und auch meine übrigen damaligen Vorlieben, Jean Paul, Frisch, Grass, passten nicht zu Tolkien. Hätte ich den „Hobbit“ als Erstes gelesen, wäre ich darauf gekommen, dass Tolkien mit einem meiner anderen Lieblingsautoren, E.T.A. Hoffmann, Gemeinsamkeiten hat. Nun, er hat mich ja Jahrzehnte später via Hörbuch doch gefangen… Audible Magazin: Die beiden Teile umfassen zusammen fast 40 Stunden Spielzeit. Wie motiviert man sich als Sprecher bei schwierigen Passagen? Gert Heidenreich: Ich habe ein erprobtes Arbeitskonzept. Erst das Buch einmal durchlesen. Dann die Gestalten erarbeiten und, wenn nötig (bei Tolkien ist es nötig) stimmlich und sprecherisch charakterisieren. Das probiere ich laut aus. So entsteht ein Personenregister mit den entsprechenden Notizen. Bei so vielen Figuren, die über so viele Seiten erkennbar bleiben müssen, ist das nicht ganz leicht. Aber wir realen Menschen haben auch ja auch so viele unterschiedliche Kieferstellungen, Zungenlagen, Gaumentiefen, Lippenhaltungen, Atemgeräusche – das findet sich. Von Dialekten halte ich nichts. Ich beherrsche etliche, aber in Mittelerde haben Schwaben oder Sachsen nichts zu suchen. Und endlich arbeite ich das Buch Satz für Satz mit dem Bleistift durch. Bögen, Trennungen, Pausen, Verlangsamungen, Beschleunigungen, Ironie, die Gefühle, Lautstärkenskala etc. Natürlich auch die Aussprachen, aber die sind ja trotz Elben und Zwergen letztlich das Einfachste, weil es dafür Tolkien- Experten gibt… Damit dann ins Studio. Weitere Motivation braucht’s nicht. Audible Magazin: Gab es Situationen oder spezielle Momente im Studio, die Ihnen besondere Freude bereitet haben? Gert Heidenreich: Ja, wenn man merkt, dass alle, Lektorin, Regie, Tonmeister, Freude an meiner Arbeit haben. Und natürlich am Schluss, wenn alles „im Kasten“ ist, das ist ein wunderbares Gefühl. Hörbücher-Blog: In welcher Figur aus „Der Herr der Ringe“ finden Sie sich selbst ein Stück weit wieder? Gert Heidenreich: Eigentlich in keiner. Mein Leben und Schreiben und Vorlesen ist doch sehr weit weg von Frodo, und die Weisheit und Macht von Gandalf habe ich Gott sei Dank auch nicht. Es ist auch nicht nötig, sich wiederzufinden. Man muss lernen, sich auf das Buch ganz einzulassen und die Figuren zu lieben, vor allem auch die Bösen. Audible Magazin: In ihrem Essay Wir sind Kultur – über geistige Ernährung von 2009 bemängeln Sie, dass viele junge Menschen in der Schule heute zwar ein spezielles Grundwissen der Literaturwissenschaft vermittelt bekommen, aber viel zu selten Texte tatsächlich erfahren. Das Phantastische, der fiktive Moment, würde eine andere Qualität des Lernens ermöglichen. Was können wir also von Frodo und den anderen Figuren lernen? Gert Heidenreich: Ich glaube, dass wir schon als Kinder an der Literatur lernen, die wirklich wichtigen Situationen und Forderungen im Leben zu erkennen: Glück und Verlust, Liebe und Eifersucht, Wut, Moral, Rachsucht, Trauer und Angst, Widerstand, Mut, Niederlagen, Erfolg, und wie der Tod ins Leben eingreift. Das alles steht seit Jahrtausenden in der Literatur, als Variation ihrer beiden Grundthemen Liebe und Tod. Und jeder von uns wird irgendwann mit all dem in seinem Leben konfrontiert. Es ist wichtig, dann, wenn es eintritt, zu wissen, dass es nicht nur mir so geht, sondern allen Menschen schon immer so erging. Und eben das kann man in der Phantasie beim Lesen schon vor-erleben, antizipieren. Ich rede dabei noch nicht von Kunst. Frodo ist ein Musterbeispiel für eine Figur, die eine zu große Aufgabe aufgebürdet bekommt, Angst hat, zu versagen, mit Hilfe anderer aus Gefahren gerettet wird, und endlich mit knapper Not ihren Auftrag erfüllt. Einerseits ist entsetzlich, was er durchmacht, andererseits ist er ein Beispiel für Hoffnung. Und er durchlebt ein Abenteuer, in dem er auf andere zählen kann! Er ist das ängstliche, neugierige, mutige, waghalsige Kind in uns selbst. Tolkien erzählt uns eine große Geschichte über Freundschaft, Beistand und Solidarität. Das, zum Beispiel, können junge Leser erfahren. Und Ältere können lernen, was sie alles versäumt haben…
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