Das zweite Gesicht - Kai Meyer

In deinem Audible Original Hörbuch „Das zweite Gesicht“ geht es um den Glamour der Stummfilmwelt. Was hat dich daran besonders gereizt?

Weniger der Glamour als die Schattenseiten. Der Roman erzählt vom Aufstieg und Fall einer Stummfilmdiva zu einer Zeit, als in Deutschland Kinofilme entstanden, die man heute nur mit den größten Hollywood-Blockbustern vergleichen könnte. Das waren gigantische Produktionen, von denen wir heutzutage nur träumen können. Und natürlich wurden da Talente am laufenden Band verbrannt – bei mir dann auch ganz buchstäblich.

Das zweite Gesicht

Das zweite Gesicht“ ist ein düsterer und unheimlicher Roman, ich komme ja aus der Phantastik. Was die Wenigsten wissen: Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland schon einmal einen massiven Boom der Phantastik. Man sieht es noch an vielen Filmen, etwa „Nosferatu“ und „Das Kabinett des Doktor Caligari“, vor allem aber auch an literarischen Klassikern wie „Der Golem“ oder „Alraune“. Diese Bücher hatten unglaubliche Auflagen. Eines der Lieblingsmotive damals war das des Doppelgängers, das ja zugleich auch als Allegorie ganz wunderbar in die Filmwelt passt. Zugleich gab es einen Drang der Menschen zum Spiritistischen, Metaphysischen. Überall fanden Seancen und Geisterbeschwörungen statt, es gab Schwarze Messen mit starker erotischer Komponente. Ich habe all das gesammelt und zu einer einzigen, großen Geschichte verarbeitet.

Unter den rund 60 Romanen, die ich bis heute veröffentlicht habe, ist „Das zweite Gesicht“ einer meiner ewigen Favoriten. Und ich freue mich riesig über die Umsetzung von Audible.

Gerade wurde die Bestsellerreihe von Volker Kutscher rund um den Kommissar Gereon Rath als Babylon Berlin verfilmt. Das Setting ist auch hier das Berlin der 1920er Jahre. Was macht die Faszination für diese Zeit aus?

Zum einen die verblüffende Modernität, die anschließend durch die Repressionen der Nazis wieder kurz- und kleingeschlagen wurde. Die Zwanziger, ganz besonders in Berlin, waren eine Zeit der Exzesse, im Guten wie im Schlechten. Maßlose Dekadenz neben unfassbarer Armut. Und im Nachhinein betrachtet schwebte über allem der Schatten dessen, was da kommen sollte. Wenn man heute diese Bilder sieht von ausgelassenen Menschen in Berliner Nachtclubs und zugleich weiß, ein paar Jahre später stirbt die Hälfte von ihnen an der Front, im Bombenhagel oder gar im KZ, dann übt das eine morbide Faszination des Grauens aus. Für uns Autoren ist das ein großartiger Hintergrund. Man hat Menschen, die reden und denken wie wir heute und die uns dadurch unglaublich nah sein können – und zugleich wissen wir, welche Schrecken ihnen bevorstehen. Das ist so eine Art gesellschaftlicher Suspense: Die Bombe tickte ja längst, aber kaum einer wusste davon. Vergleichbar mit der Ballgesellschaft auf der „Titanic“: Die feiern und sind glücklich, während wir auf den Eisberg warten.

Wann bist du als Autor zum ersten Mal mit Hörbüchern in Berührung gekommen?

Mit Hörbüchern in den Achtzigerjahren in England, wo sie sich viel früher durchgesetzt hatten als bei uns. Ich war als Schüler mehrfach in London und später dann immer wieder, und die Buchhandlungen waren voll mit Hörbuchkassetten – ganz anders als bei uns.
Aufgewachsen bin ich aber vor allem mit Hörspielen. Die liebe ich bis heute sehr, deshalb gibt es so viele Hörspieladaptionen meiner Romane. Fast dreißig, mittlerweile.

In "Die Seiten der Welt" haben Worte die magische Kraft, die Realität zu verändern. Die Sprecher hinter deinen Werken sind auch wahre Stimmmagier. Hast du Lieblingssprecher?

Philipp Schepmann. Andreas Fröhlich. Simon Jäger. Maria Koschny. In keiner bestimmten Reihenfolge. Und das Tolle ist, dass alle vier schon Romane von mir als Hörbücher umgesetzt haben.

Welches Hörbuch/Hörspiel/Podcast hörst du aktuell?

Gerade im Moment mal wieder die Hörspieladaption von „Der Schatten des Windes“, die ich sehr mag. Auch ein Dauerbrenner bei mir ist das Hörspiel zu Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“. In Sachen Hörbuch waren es zuletzt diverse frühe Stephen-King-Romane, hauptsächlich solche, die ich vor zwanzig, dreißig Jahren als Buch gelesen hatte: „Es“, „Christine“, „Brennen muss Salem“ und noch zwei, drei andere.

Hörst du privat lieber Hörbücher oder Hörspiele?

Früher lieber Hörspiele, heute hat sich das zugunsten des Hörbuchs verschoben. Es kommt aber immer sehr auf den Stoff an. „Das Foucaultsche Pendel“ würde ich sicher nicht wieder und wieder als 20-Stunden-Hörbuch hören. Als Hörspiel aber etwa einmal im Jahr. Da gäbe es noch mehr Beispiele. Manchen Geschichten tut eine Straffung und atmosphärische Inszenierung sehr gut.

Welche drei würdest du besonders empfehlen?

Abgesehen von den oben genannten aus dem Bauch heraus (und das könnte nächste Woche anders sein): David Nathans H.P.-Lovecraft-Lesungen, „Der Wind in den Weiden“ in der Harry-Rowohlt-Version und – ganz obskur und schwer zu finden – die Hörspieladaption von Clive Barkers „The Damnation Game“.