Im Kinderbuch ist die Welt noch in Ordnung. Am Ende gewinnen die Guten, die Bösen kriegen auf die Mütze oder bereuen ihre Missetaten. Kinderbuchautoren müssen demnach liebenswerte, etwas realitätsferne Kindsköpfe sein – so will es das Klischee. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass die Kinderliteratur im Schatten der „richtigen“ Literatur steht: von Wissenschaftlern weitestgehend links liegen gelassen, vom Feuilleton vernachlässigt und vom Komitee des Literatur-Nobelpreises schlicht ignoriert. Als könne nur für voll genommen werden, wer für Volljährige schreibt. Ach ja: Von ihrem Beruf leben können die meisten Kinderbuchautoren übrigens auch nicht.

Kinderbuchautoren: Realitätsferne Schwarz-Weiß-Maler?

Da muss es für die Zunft eine kleine Genugtuung sein, dass die erfolgreichste Autorin der Welt ihr Vermögen einem Zauberlehrling und seinen Abenteuern verdankt. Abenteuer, die durchaus nicht nur von Kindern weltweit verschlungen werden. Wer sie gelesen hat, weiß: Mit schlichter Schwarz-Weiß-Malerei hat J.K. Rowlings ausdifferenzierter phantastischer Kosmos nichts zu tun.

Und wie sieht es mit dem Vorwurf aus, die Kinderliteratur sei „realitätsfern“? Michael Ende ärgerte sich zeitlebens über Kritiker, die meinten, seine Romane würden Kinder nicht auf das richtige Leben vorbereiten. Frustriert vom immer wiederkehrenden Eskapismus-Vorwurf wanderte er schließlich nach Italien aus. Sein bitteres Fazit:

Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten, aus der Gefängnistür, aus der Irrenhaustür oder aus der Bordelltür. Nur aus einer Tür darf man nicht kommen, aus der Kinderzimmertür. Das vergibt einem die Kritik nicht.

_Michael Ende _

Seine Versuche, sich als Autor für Erwachsene Gehör zu verschaffen, fielen bei deutschen Literaturkritikern durch. Ende sah sich als Märchenonkel verkannt. Völlig zu Recht. Denn es braucht nicht viel Scharfsinn, um etwa hinter Momos Gegenspielern, den „Grauen Herren“, eine scharfe Kritik an Geldgier, Ausbeutungslogik und Unmenschlichkeit des Kapitalismus zu erkennen. Damit bläst er in das gleiche Horn wie ein anderer Freigeist, dessen Kinderbücher bis heute kultisch verehrt werden: Horst Eckert alias Janosch.

Oh, wie schön ist Zabrze: Zu Janoschs 90. Geburtstag

Kästner und Lindgren: Humanisten, die auf Pädagogik pfiffen

Die subversiven Botschaften vieler Kinderbuchklassiker erkennen wir heute nur noch, wenn wir uns die damalige Zeit mit ihren Machtverhältnissen, Repressionen und Zwängen ins Gedächtnis rufen. Erich Kästner hatte als einziger Autor die Chuzpe, dabei zu stehen, als die Nazis seine Bücher verbrannten. Der Antimilitarist hatte in seinen Werken immer wieder vor dem Faschismus und einem neuen Krieg gewarnt. Kästner, ein Kindskopf? Bestimmt nicht. Kästners Kinderbuch-Helden folgen ihrem gesunden Menschenverstand und ihrem unbestechlichen moralischen Instinkt. Damit sind sie den Erwachsenen haushoch überlegen. Kästners Ziel:

Dass wir wieder werden wie Kinder, ist eine unerfüllbare Forderung. Aber wir können zu verhüten versuchen, dass die Kinder so werden wie wir.

Erich Kästner

Und wie sieht es mit Astrid Lindgren aus, dieser innig verehrten und in 106 Sprachen übersetzen Kinder- und Jugendbuchautorin? Für uns ist „Bullerbü“ heute das Synonym für die heile Welt schlechthin. Doch heil war Astrid Lindgrens Welt nie – nicht in Wirklichkeit und auch nicht in ihren Büchern. Während ihres Zeitungsvolontariats schwängerte der verheiratete Chefredakteur Reinhold Blomberg die damals 19-Jährige. Mittellos und ohne Berufsabschluss sah Lindgren sich gezwungen, ihren Sohn Lars für einige Jahre in die Obhut einer Pflegefamilie zu geben.

Sie verwandt diese Trennung nie ganz und verarbeitete sie in vielen ihrer Romane. Mio, die Brüder Löwenherz, Rasmus – die Jungen in ihren Romanen sind ungeliebte, herzzerreißend einsame Kinder. Und auch die starke, anarchistische Pippi, von der Pädagogen Anfang der fünfziger Jahre noch eindringlich warnten, ist ja eine Halbwaise. Viele von Astrid Lindgrens Geschichten handeln von Tod, Gewalt und Armut. Sie war nie der Meinung, dass man Kindern solche Themen nicht zumuten könne. Nur eins durfte es für Lindgren nicht geben: Lieblosigkeit.

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Liebe kann man lernen. Und niemand lernt besser als Kinder. Wenn Kinder ohne Liebe aufwachsen, darf man sich nicht wundern, wenn sie selber lieblos werden.

Astrid Lindgren

Ihr Leben lang mischte sich die kompromisslose Humanistin in politische Debatten ein, kämpfte für Kinderrechte und gewaltlose Erziehung. Dafür bekam sie 1994 den alternativen Nobelpreis.

Blyton, Sommer-Bodenburg und Funke: Schriftstellerin werden – gegen alle Widerstände

Etwa zur gleichen Zeit wie Astrid Lindgren feierte eine weitere unvergessliche Kinderbuchautorin große Erfolge: Enid Blyton. Kinder rund um den Globus verschlangen ihre Hanni-und-Nanni-, Fünf-Freunde- und Geheimnis-um-Serien. Doch Kritiker kanzelten vor allem die Mädchen-Darstellungen in Blytons Büchern als sexistisch und stereotyp ab – ein teilweise berechtigter Vorwurf, der allerdings den damaligen Zeitgeist außer Acht lässt.

Tatsächlich verdrängte Enid Blyton offenbar selbst, wie problematisch ihre Doppelbelastung als Schriftstellerin und Mutter war. In ihrer Autobiographie behauptete sie zwar:

Zuallererst kommen meine Töchter. Zum Glück habe ich genug Zeit, um allen gerecht zu werden.

Enid Blyton

Doch wie glaubwürdig ist diese Aussage? Blyton war ungeheuer produktiv, sie schrieb in ihrem Leben mehr als 700 Bücher, 37 davon in einem einzigen Jahr. Dieser enorme Output musste auch zu Lasten ihres Privatlebens gehen.

In ihrer Autobiographie „Eine Kindheit in Green Hedges“ beschreibt ihre Tochter Imogen die Mutter als arrogant, unsicher, streng, kindisch und boshaft. (Ihre ältere Tochter, Gillian, zeichnete ein deutlich positiveres Bild.) Welche Darstellung ihr gerecht wird, wissen wir nicht: Ihre Tagebücher, die über Blytons Denken und Charakter mehr Aufschluss gegeben hätten, hat ihr zweiter Mann verbrannt. So bleibt sie eine rätselhafte Frau. Sicher wissen wir nur: Ihrem unbedingten Willen, zu schreiben, ordnete Blyton alles andere unter. Wäre sie ein Mann gewesen, hätten ihre Zeitgenossen sie dafür gefeiert und nicht gescholten.

Wie Enid Blyton setze auch Angela Sommer-Bodenburg ihren frühen Wunsch, Schriftstellerin zu werden, gegen die Widerstände einer überstrengen Mutter durch. Und wie Blyton konnte sie dies erst, nachdem sie sich einen Brotjob gesucht hatte. Mit ihrer Serie „Der kleine Vampir“ brachte die Grundschullehrerin erst ihre eigene Klasse, dann Kinder in ganz Deutschland dazu, zu lesen. Doch wie Michael Ende sah sich auch Sommer-Bodenburg schon bald in der Schublade „Kinderbuchautorin“ gefangen. „Tatsächlich habe ich aber mehr als vierzig Bücher zu sehr unterschiedlichen Themen und für unterschiedliche Altersgruppen veröffentlicht, außerdem Lyrik, Kurzgeschichten, Hörspiele und Theaterstücke“, schreibt die Autorin auf ihrer Homepage.

Unabhängigkeit – für Kinderbuch-Autorinnen scheint dieses Thema noch bedeutsamer zu sein, als für die Männer. Auch für Cornelia Funke, eine der international erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren. Sie gründete vor drei Jahren sogar ein eigenes Hörbuchlabel, um bei der Vertonung ihrer Bücher künftig keine Kompromisse mehr eingehen zu müssen.

Geschichten machen Kinder zu besseren Menschen

Neben ihrem Streben nach Unabhängigkeit und ihrem Kampf um Anerkennung haben all diese so unterschiedlichen Autoren vor allem eines gemeinsam: Sie sind überzeugte Humanisten. In ihren Büchern vermitteln sie Kindern Werte, ohne dabei platt zu moralisieren. Ihr Beitrag zur Herzensbildung ganzer Generationen lässt sich schwer nachweisen – doch 74 Jahre Frieden in Europa verdanken wir ein Stück weit auch ihnen. Denn das Wissen darüber, was gut und richtig ist, entwickeln Menschen im frühen Kindesalter. Fiktive Geschichten helfen dabei. Das konnten Psychologen nachweisen.

Pippi, die fünf Freunde, Momo und Harry Potter: Sie erinnern uns und unsere Kinder unermüdlich an den Wert von Mut, Gewaltlosigkeit, Toleranz, Phantasie und Freundschaft. Davon können wir gar nicht genug bekommen – egal, in welchem Alter.

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