Herr Küpper, Sie haben 2007 bei Reclams Universal-Bibliothek den Band Kitsch: Texte und Theorien mitherausgegeben, 2022 erscheint neu Bewusst im Paradies: Kitsch und Reflexivität. Wie sind Sie als Literaturwissenschaftler zum Kitsch gekommen?

Den Kitsch gab es immer auch in meiner eigenen Familie. Als ich während des Studiums sah, wie abfällig über Kitsch gesprochen und wie negativ der Begriff verwendet wurde, dachte ich: ‚Das geht nicht!‘ Ich hatte den Eindruck, dass Kitsch viel reflektierter genutzt und genossen wird, als es die Literaturwissenschaft suggeriert. Statt mit dem Negativbegriff zu hantieren, wollte ich erforschen, was genau bei Kitschfans passiert, wenn sie entsprechende Unterhaltungsprodukte konsumieren.

Negativurteile gibt es nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern im gesamten deutschen Hochkulturbetrieb.

Bis in die Sechzigerahre war es unbestritten so, dass die Unterhaltungskultur weitgehend verdammt wurde. Es gab die Hochkultur, deren Vertreter für sich beanspruchten, Geschmack zu haben, und die anderen als Geschmacklose abstempelten. Das hat lange Zeit funktioniert. Heute geht das nicht mehr. Es zwar immer noch diese elitäre Kritik, und man kann damit immer noch von oben auf andere herabschauen. Aber man weiß nicht mehr, ob die anderen auch zu einem heraufschauen, wenn man das tut! (lacht) Inzwischen sind die kulturellen Standpunkte so vielfältig geworden, dass es schwerer fällt zu meinen, man stünde im Geschmack über den anderen. Es könnten also alle auf alle herabschauen – oder sich gegenseitig tolerieren in der Verschiedenheit ihrer Geschmäcker und Unterhaltungsbedürfnisse.

Wann begann die Trendwende?

Die Unterscheidung in Hochkultur und angeblich niederer Kultur ist seit den Sechzigerjahren nach und nach fraglich geworden. Außerdem hat Kitsch inzwischen überall Einzug gehalten. Es gibt die „Pop Art“ und später die „Kitsch Art“ im Museum, wo Künstler wie Jeff Koons Kitschelemente bewusst in den weißen Raum des Museums gestellt haben. Heute kann jeder – auch mit einem gewissen Augenzwinkern – problemlos zugeben, dass er oder sie Kitsch liebt.

Vermächtnis der Dunkelheit

Ist die Weihnachtszeit die Hochsaison des Kitsches?

Ich frage mich, ob Weihnachten als bestimmte, genau abgegrenzte Zeit im Kalender nicht überhaupt erst ermöglicht, dass man kontrolliert seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Man tritt aus dem Alltag heraus und ist nicht mehr Teil der gewöhnlichen Welt, wo man rational und nüchtern arbeiten muss. Stattdessen darf man „kontrolliert unkontrolliert“ sein. Man hat die Möglichkeit, die ganz großen Gefühle heraufzubeschwören, ohne dabei Kontrolle zu verlieren.

Wie in der Karnevalszeit, wo die Regeln des Alltags kurzzeitig außer Kraft gesetzt werden?

Genau. Es gibt zu Weihnachten ein kontrolliertes Aus-sich-Herausgehen in Sachen Gefühl. Und man weiß, dass alles nach den Feiertagen wieder zu Ende sein wird.

Der Schriftsteller Hermann Broch spricht von bestimmten „Kitsch-Menschen“. Gibt es so etwas wie eine Kitsch-Typologie?

Es gab vor 100 Jahren den Museumsdirektor Gustav Edmund Pazaurek, der meinte, man müsse Kitsch systematisch kategorisieren. Um den Leuten vor Augen zu führen, wie schlecht ihr Geschmack sein kann. Er wollte mit einer Kitsch-Ausstellung im Stuttgarter Landes-Gewerbe-Museum die Leute zum guten Geschmack erziehen. Seitdem gab es viele Versuche, Kitsch zu unterteilen, zum Beispiel in „Hurrakitsch“ (im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg), in religiösen Kitsch, politischen Kitsch, „süßen“ und „sauren“ Kitsch, niedlichen und sentimentalen Kitsch, Weltschmerz-Kitsch usw. Mir selbst fällt es schwer zu sagen, was genau Kitsch ist und in welche Typen er aufgefächert werden sollte. Deshalb beobachte ich lieber andere und schaue mir deren Definitionen an. Daraus ziehe ich dann meine wissenschaftlichen Schlüsse.

Die Schlafwandler

Hat die Angst vor Kitsch etwas mit der Abneigung gegenüber Unterhaltung zu tun, getreu dem Motto von Theodor W. Adorno: „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“?

Manche glauben immer noch, dass durch Unterhaltung die Gesellschaft verderben könnte. Aber letztlich sind solche Vorbehalte stark zurückgegangen. Es gibt die starre Unterscheidung in U(nterhaltung) und E(rnste Kunst) kaum noch.

__Wenn man sich die neuen Weihnachtsfilme und -geschichten anschaut, hat man manchmal das Gefühl, es werden immer die gleichen Storys erzählt. __

Man punktet erstmal damit, Vertrautes zu bieten. „Wiedersehen macht Freude“ hieß mal ein Slogan fürs Fernsehen. Oft wird am Kitsch kritisiert, dass Leute immer nur das gleiche Schema wiedererkennen wollen. Das sehe ich nicht so kritisch. Meines Erachtens wissen die Leute sehr genau, was sie von einer Story zu erwarten haben. Sie erkennen das Schema, nicht unbewusst, sondern sie gehen dabei extrem bewusst vor. Sie prüfen, was ihnen geboten wird, und sie sortieren entsprechend aus, ob es das ist, was sie sich erhoffen.

Gibt es in Corona-Zeiten eine besondere Sehnsucht nach vorhersehbaren Geschichten?

Sicher, denn die Welt ist sehr komplex, der Alltag rau und hart. Man will die Reduktion von Komplexität genießen: einmal eine schöne heile einfache Welt, die weniger anstrengend ist. Gerade in Corona-Zeiten gibt es viel Vereinsamung. Da entsteht bei vielen ein Bedürfnis nach Sinnlichkeit, die man mit anderen teilen will. Liebe und Familie sind ein großes Thema. In der Weihnachtszeit intensiviert sich das. Entsprechend suchen sich Leute gezielt Titel aus. Es ist wie ein Abtauchen in eine andere Dimension, wo man weiß: gleich kann ich auch wieder auftauchen.

Drei Männer im Schnee / Inferno im Hotel

Kitschkonsum als Form von Meditation?

Man könnte es vielleicht vergleichen mit einem Saunabesuch. Man sucht sich eine Sauna mit einem bestimmten Aufguss und weiß, welches Aroma kommen wird. Hat man genau das erwartete Aroma genossen, geht man entspannt wieder heraus.

Kitsch als Aroma-Therapie?

Das Publikum orientiert sich entsprechend an Genrebezeichnungen, an Verlagslabels, Autorennamen, an Covern, konkreten Serientiteln, an bekannten Sprechern und Sprecherinnen. Das ist Teil des bewussten Umgangs mit dem Angebot. Früher sagte die Kritik immer, Kitsch überwältige das Publikum, es sei nur passiv und werde vom Kitsch „ergriffen“. In Wirklichkeit ist der Vorgang komplizierter. Diejenigen, die sich Kitsch aussuchen, tun das meist gezielt. Sie entscheiden, von was sie sich ergreifen lassen wollen. Es gibt eine Art Kitschvertrag, einen Pakt mit dem Kitsch: Ich gebe mich ihm für begrenzte Zeit hin, und habe mit dem Anbieter den Vertrag geschlossen, dass er mich rühren darf. Aber ich kann auch wieder rauskommen aus dem Vertrag, nach so und so vielen Minuten. Und dann sind meine Tränen der Rührung schnell wieder trocken.

Diese Strategie setzt wiedererkennbare Namen und Inhalte voraus.

Es setzt ein großes Vorvertrauen voraus, ja. Wenn ich mitleide mit einer Heldin, muss ich darauf vertrauen können, dass es zum Happy End kommt. Ich investiere schließlich Gefühle, ich bin verletzbar. Und es ist ein Paragraf meines Vertrags, dass die Geschichte gut ausgehen soll. Es kann zwischendurch Verwirrungen geben, die auch im Vertrag eingeräumt werden, sonst könnte ich ja nicht zwischendurch weinen. Aber ich muss die Gewissheit haben, dass am Ende alle glücklich sind.

Die Muschelsucher

__Betrachtet man die aktuellen Weihnachtsfilme, geht es neuerdings darum, dass eine Single-Frau oder ein Single-Mann zu Weihachten den Eltern und Verwandten etwas vorspielt – mit einem vorgetäuschten Lebenspartner. Und dann schlussendlich mit diesem tatsächlich zusammenkommt, widererwarten. __

Das ist eine hochinteressante Situation. Und sie wirft die Frage auf: Kann sich Kitsch wahrlügen? Kann aus der angeblichen Verlogenheit einer Kitschgeschichte am Ende eine Wahrheit entstehen? Ein Klassiker ist Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Die Filmversion wird bekanntlich regelmäßig zur Weihnachtszeit gezeigt. Da haben wir das Prinzip „Wiedersehen macht Freude“, also das Vertraute. Aber es lohnt sich, genau hinzuschauen. Es gibt Aschenbrödel-Filme, wo die weibliche Heldin passiv ist, ihr fällt das Glück in den Schoß. Sie wird durch ihren Schuh erkannt und darf Prinzessin werden. Bei der tschechischen Märchenverfilmung haben wir ein Aschenbrödel, das ausgesprochen aktiv ist. Es ist bezeichnend, dass sie am Schluss auf ihrem eigenen Pferd neben ihrem Bräutigam durch den Schnee reitet. Damit zeigt sie, dass sie selbstständig, dass sie selbstbewusst und dass sie mutig ist. Das sind alles positive Impulse.

Reagieren Frauen und Männer anders auf Kitsch?

Früher hätte man eindeutig gesagt, dass Männer und Frauen für verschiedene Arten von Kitsch anfällig wären. Heute ist das schwierig, überhaupt eine Unterscheidung in die Kategorien Mann/Frau aufrechtzuerhalten. Als „männlich“ galt früher, von Winnetous Tod ergriffen zu werden – auch Karl May zählte somit zum Kanon des Kitsches. Während man Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler den Frauen zuordnete.

Die Männer durften also kein Happy End bekommen, sondern es musste in einem tränenreichen Freundestod enden?

Oft wurde Männlichkeit eher mit „saurem“ Kitsch und nicht mit „süßem“ in Verbindung gebracht. Allerdings waren das bloße Zuordnungen. Wie es in Wirklichkeit war, ist eine ganz andere Frage. Die Liebesromane von Courths-Mahler zum Beispiel – mit Happy End – wurden zweifellos auch von Männern gelesen.

Wie ist das heute, angesichts der aktuellen Gender-Diskussionen?

Heute sind die Grenzen zwischen Männlich und Weiblich durchlässiger und weniger starr, genau wie sie zwischen Kunst und Kitsch aufgebrochen wurden. Ich kann mich als Mann heute zu Liebesromanen bekennen, ohne gleich besorgt sein zu müssen, dass deswegen meine Männlichkeit in Frage gestellt würde.

Wann hört die Weihnachtskitschzeit wieder auf?

Es gibt immer bestimmte Zyklen, auch für Gefühle. Vielleicht könnte man sagen, das Silvesterfeuerwerk mit all den Knallern verjagt die ganze Gefühligkeit der Weihnachtszeit.

Und was kommt dann als nächste Hochzeit des Kitsches?

Vieles – bis hin zum Sommerkitsch! (lacht) Im Kontext von Urlaub spielte Kitsch schon immer eine große Rolle. Die Forschung hat erkannt, dass die vermeintlich heilen Urlaubswelten – mit all ihren Souvenirs – bewusst genossen werden. Ein Tourismusforscher hat von „kontrollierter Regression“ gesprochen, also ein kontrolliertes Sich-zum-Kind-Machen am Urlaubsort: das Paradiesische am Strand, wo man sich ausziehen darf, unter der warmen Sonne liegt, Sorgen abstreift. Man hat dafür sein Hinfahrticket gelöst, aber auch eine Rückfahrkarte in der Tasche.

Brauche ich für diese Regressionszeit am Strand entsprechende Literatur?

Viele bevorzugen dann Titel, die auf Leichtigkeit setzen. Und über die Urlaubszeit hinaus gibt es ansonsten die verschiedensten Arten von „Auszeiten“ mit jeweils eigener Literatur. Nicht nur im Jahres-, sondern auch im Wochenzyklus gab oder gibt es Zeiten für Kitsch – zum Beispiel beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Taktgeber, wo am Wochenende im ZDF der Rosamunde-Pilcher-Film für großes Gefühlskino sorgt – eine Auszeit, die in diesem Zyklus ihren Platz hat.

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel

„Bridgerton“ hat es unlängst geschafft, ein altbekanntes Kitsch-Format mit unglaublicher Diversität neu zu beleben. Dabei wurde eine vertraute Geschichte komplett neu erfunden, mit einer Schwarzen als Königin von England im 18. Jahrhundert. Das Resultat war erfolgreich beim Mainstreampublikum, weit über alle ZDF-Filme von Rosamunde Pilcher hinaus.

Das ist ein wunderbares Beispiel. Es zeigt, dass man keine Pauschalurteile über sogenannten Kitsch fällen sollte. Interessanter wäre es zu schauen, wie bekannte Schemata genutzt werden, um immer wieder neue Variationen zu ermöglichen. Und da gibts ganz viel Spielraum für Veränderungen, die sehr zeitgemäß sind.

Sind die Veränderungen, die im Kitschbereich stattfinden, Gradmesser dafür, wo wir uns als Gesellschaft wiederfinden? Ich denke an die Weihnachtsfilme von Hallmark, wo 2020 erstmals ein schwules Paar in den Hauptrollen auftauchte, 2021 wird sich dies wiederholen, ebenso bei Netflix mit „Single All The Way“.

Durch das Erwartbare des Schemas drumherum sind solche Geschichten angenehm konsumierbar, sie erscheinen nicht sperrig, muten nicht solche Rätsel zu wie hochkulturelle Kunst. Das Mainstream-Publikum wird daher nicht zu sehr verunsichert. Stattdessen bekommt es beim Hallmark-Beispiel ebenso wie bei „Single All The Way“ Unterhaltung und Entspannung, aber innerhalb des vertrauten Rahmens wird experimentiert. Hier wurde eine Akzentverschiebung vorgenommen und dazu beigetragen, dass sich eine neue Normalität bezüglich Homosexualität in der Gesellschaft etabliert. Das ist hochspannend. Und schön.

Der Duke und ich

Viele Leute hören Hörbücher beim Einschlafen. Sind Kitschgeschichten dafür besonders geeignet?

Es gehört zum Kitschvertrag, dass ein Werk nicht nachhaltig verstören darf, sondern höchstens zwischenzeitliche Verwirrung bietet, bei der man sicher sein kann, dass sie am Ende aufgelöst wird. Sonst hat man eine unruhige Nacht. (lacht) Beim Kitsch müssen am Ende alle glücklich sein, es dürfen keine Ungerechtigkeiten übrigbleiben, wo jemand leer ausgeht und keinen Partner abbekommt. Leer darf nur ausgehen, wer als „böse“ gilt. Diese Moralkonvention besteht noch oft.

Was lesen Sie eigentlich selbst in der Weihnachtszeit?

Ich lese am liebsten Liebesromane. (lacht) Das hat mich vermutlich zur Kitschforschung gebracht. Auf meinem Nachttisch liegen die 200 Romane von Hedwig Courths-Mahler, die ich sehr schätze. Und durch die ich mich gerade durcharbeite.

Das Buch Bewusst im Paradies: Kitsch und Reflexivität von Thomas Küpper erscheint 2022 im Transcript Verlag, 200 Seiten kosten 25 Euro.