Mehr Ruhe, ein eigener Garten, Felder und Nachbarn, die man alle kennt. Oder alternativ: Verkehrslärm, im Höchstfall ein paar Balkonblumen, Asphalt und unbekannte Menschen in der Nachbarwohnung. Wer würde bei dieser Gegenüberstellung nicht lieber die erste Variante wählen? Oft haben wir idyllische Bilder im Kopf, wenn wir an das Leben in der Provinz denken. Dort ist die vermeintlich heile Welt, hier der stressige Alltag. Kein Wunder, dass das Leben auf dem Land den meisten Deutschen lebenswerter erscheint. Dort haben die Menschen mehr vom Leben, glaubt die Mehrheit laut einer Allensbach-Umfrage.

Wohl deshalb haben Magazine wie „Landlust“, „Landidee“ oder „Mein schönes Land“ so hohe Auflagen – sie hängen teilweise sogar etablierte Tageszeitungen ab. In den Heften lernen Leserinnen und Leser, wie sie Brot backen, Basilikum in der Hausapotheke verwenden oder Frühblüher pflanzen. Das ist ein Gegenentwurf zur industrialisierten und genormten Welt, in der wir fertig gefüllte Ravioli im Supermarkt einkaufen und Medikamente online ordern.

Leben auf dem Land wie bei Astrid Lindgren

Woher aber kommt unsere Sehnsucht nach dem angeblichen Idyll auf dem Land? Womöglich hat sie etwas mit unserer Kindheit zu tun. Viele Bücher, die wir als Mädchen oder Jungen verschlungen haben, spielen auf dem Dorf. Vor allem Astrid Lindgrens berühmte Geschichten haben ihre Spuren hinterlassen. Ob in Wir Kinder aus Bullerbü oder Ferien auf Saltkrokan: Wie gerne hätten wir mit Lisa, Lasse, Bosse und Pelle die malerische Natur erkundet und ihre Abenteuer miterlebt. Die unbeschwerten Sommertage, ewige Ferien, das Herumstreifen in einer vertrauten Welt, in der es trotzdem immer Neues zu entdecken gibt. Vielleicht ist es das, was wir Erwachsenen uns heute zurückwünschen: die Unbeschwertheit einer überschaubaren und friedlichen Welt.

Wir Kinder aus Bullerbü
Ferien auf Saltkrokan

Lindgren, Kästner, Ende: Hommage an Kinderbuchautoren.

Auf dem Land zu sich selbst finden: Stadtflucht im 19. Jahrhundert

Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben in einer beschaulichen Umgebung ist aber kein neues Phänomen. Henry David Thoreau beschloss schon Mitte des 19. Jahrhunderts, aus seinem Alltag auszusteigen – weil er ein Leben abseits materieller Zwänge und gesellschaftlicher Normen ausprobieren wollte.

Wo und wofür ich lebte
Walden (AmazonClassics Edition)

1845 zog er sich allein in die Wälder von Massachusetts zurück und lebte dort zwei Jahre lang in einer selbstgebauten Hütte am See. In seinem berühmt gewordenen Buch Walden nimmt er uns mit dorthin und lässt uns an seinen Erkenntnissen teilhaben. Er reflektiert über Gesellschaft, Zivilisation und Einsamkeit, beschreibt aber auch die Tiere und sein Leben in der Einöde. Thoreau traf damit einen Nerv – weit über seine Zeit hinaus. Er beeinflusste die Umweltbewegung im 20. Jahrhundert und inspirierte Mahatma Gandhi. Bis heute ist Walden ein Kultbuch, das nichts von seiner Faszination verloren hat. Die schönsten Stellen liest Burghart Klaußner in Wie und wofür ich lebte vor.

Middlemarch

Auch im England des 19. Jahrhundert ist das Provinzleben ein Thema. Die Autorin George Eliot beschreibt in ihrem Roman Middlemarch eine fiktive Kleinstadt zu Beginn der Industrialisierung. Im Mittelpunkt der vier Handlungsstränge steht die idealistische Heldin Dorothea, die sich gegen die Konventionen ihrer Zeit wehrt. Nach einer unglücklichen Ehe heiratet sie doch noch den Mann, den sie liebt, und findet so zu sich selbst. Hörer erleben das Leben in einer kleinen Stadt mit – inklusive Intrigen, Verwicklungen und wechselnden Beziehungen. Seine ganze Wirkung entfaltet der Roman, weil ihn die britische Schauspielerin Juliet Stevenson auf Englisch vorliest und die feinen ironischen Kommentare so noch besser wirken.

Weitere historische Romane mit starken Heldinnen – hier im Magazin.

Das Klischee vom idyllischen Landleben

Dass die Vorstellung vom ach so idyllischen Leben auf dem Land ein Klischee ist, wissen wir natürlich selbst. Dort riecht es zwar nicht nach Autoabgasen, dafür aber mitunter nach Gülle. Der eigene Garten kann viel Arbeit machen und die Nachbarn beobachten vielleicht und kommentieren dann aus Mangel an anderer Zerstreuung jede vermeintliche Verfehlung. Auch auf dem Land gibt es Unsympathen, Egoisten und rücksichtslose Rüpel. Wie überall eben.

Der Mikrokosmos einer Kleinstadt oder eines Dorfes eignet sich aber hervorragend, um ein konzentriertes Bild einer Gesellschaft zu entwerfen – etwa in diesen aktuellen Romanen.

Alte Sorten

Im Roman Alte Sorten erzählt Edwald Arenz von der zufälligen Begegnung zweier Frauen, aus der sich eine Freundschaft entwickelt. Die junge und rebellische Sally ist aus einer Klinik abgehauen und findet Zuflucht auf dem Bauernhof von Liss, die im Dorf eine Außenseiterin ist. Sally kommt nach und nach zur Ruhe, und Liss lernt durch die Jugendliche etwas über ihren eigenen Hass auf Routinen und Zwänge. Eingebettet ist diese Geschichte in die Schilderung der Abläufe auf dem Hof, von der Kartoffelernte bis zum Hühnerfüttern und Schnapsbrennen.

Mittagsstunde

Auch Dörte Hansen schickt in Mittagsstunde einen Fremden in ein Dorf, auch für den 49-jährigen Ingwer ist dieser Schritt ein Neuanfang. Nur dass er den Ort kennt, denn er ist dort geboren. Nach vielen Jahren kehrt er heim, weil er etwas gutmachen will: Einst hatte er seine Großeltern mit ihrem Gasthof zurückgelassen, weil er in die Stadt zog. Die bäuerliche Welt, die er kennt, ist allerdings verschwunden. Sprecherin Hannelore Hoger hat die perfekte Stimme für diese mal melancholische, mal rührende und mal komische Geschichte, in der das Dorfleben mit seinen Bewohnern im Zentrum steht.

Unterleuten

Nicht nur um den Niedergang des Dorflebens, sondern auch um große Zukunftsfragen geht es in Juli Zehs Unterleuten. Ein westdeutscher Investor bringt das ohnehin schon fragile Gefüge des Ortes durcheinander – ausgerechnet mit einer Windkraftanlage. Die finden einige Bewohner gut und richtig. Aber dass dafür ausgerechnet der arrogante Westler kommt und auch noch das Brutgebiet der seltenen Kampfläufer zerstört… Zehs kunstvoll aufgebauter Roman mit seinen vielen Figuren ist wie ein Kaleidoskop. Denn die Geschichte stellt sich immer etwas anders dar, je nachdem, aus wessen Sicht sie erzählt wird. Die einzelnen Fäden hält Sprecherin Helene Grass zusammen: Sie schafft es, die Emotionen und Gedanken der unterschiedlichen Figuren anschaulich zu transportieren.

Von wegen heile Welt: In Regionalkrimis die blutige Seite des Landlebens entdecken.

Das Leben auf dem Land, wie es wirklich ist

Letztlich bleibt die Idee vom beschaulichen Leben auf dem Land meist genau das: eine bloße Vorstellung. Denn schließlich ist die Mehrheit der Deutschen heute in Städten oder Ballungsräumen zu Hause: 77 Prozent wohnen in dicht besiedelten Gebieten, nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. Der Trend ist eindeutig: Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt, nicht umgekehrt, zitiert der Spiegel eine Studie des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung. Gerade das befeuert die Sehnsucht, das Gegenteil zu tun.

Bevor wir die Stadtwohnung kündigen und mit Sack und Pack in die Provinz umziehen, können wir uns ja erst mal damit beschäftigen, wie es dort wirklich ist.

Alles Mist? Eine Familie zieht aufs Land

Etwa mit Susanne Veits Erlebnisbericht Alles Mist? Eine Familie zieht aufs Land. Darin erzählt sie, wie sie, ihr Mann und die drei Kinder von der Stadt auf eine Waldlichtung in Oberbayern zogen. Dort mussten sie plötzlich Holz hacken, Gemüse ernten oder Würmer für die Hühner suchen. Die Autorin will aber nicht nur von ihrem persönlichen großen Schritt und Umbruch berichten, sondern die Hörer ermutigen, wieder mehr in Kontakt mit der Natur zu kommen.

brand eins audio: Die Provinz

Zum Abschluss beleuchten 14 Reportagen über Die Provinz des Magazins brand eins ganz unterschiedliche Facetten des Landlebens. Etwa in einem Interview mit dem Architekten Rem Koolhaas, der die Städte dieser Welt früher gefeiert und mitgestaltet hat – und heute meint: „Die Stadt scheint mir ein System zu sein, das mehr und mehr an seine Grenzen gerät.“

Die besten Landleben-Bücher im Überblick

Das Leben hinterfragen und neu erfinden: mit Hörbuch-Ratgebern

Entrümpeln, achtsamer sein, zur Natur zurückfinden: Bei Audible findet ihr viel Anregung für eine andere Art der Lebensführung. Im Probemonat ist der erste Titel für euch kostenlos.