Gut, ja, ich gebe es zu: Ich bin eine Helikoptermama. Auf der Hitliste der Verbrechen, die Eltern tagtäglich an ihren Kindern begehen, steht dieser Tatbestand auf Platz eins – noch vor Nutella-Broten und Meckern. Ich weiß.

Ich gebe es unumwunden zu: Dass meine Kinder bei jedem Auto, das mit Schrittgeschwindigkeit unsere Spielstraße entlangschleicht, sofort panisch ins Gebüsch springen – das ist mein Verdienst. Alleine auf den Spielplatz? Ohne Warnweste über den Zebrastreifen? Unbekannte Hunde streicheln? Ja, geht’s noch?

Ich muss mit auf Klassenfahrt - Meine Tochter kann sonst nicht schlafen!

Trotzdem – oder wahrscheinlich deswegen – verlangen meine Kinder nach Büchern, in denen die Helden wild, frei und furchtlos sind. Und Eltern vor allem eins: abwesend. Schwer angesagt ist aktuell Ronja Räubertochter. Meine Tochter liebt die Stelle, wo Ronja und Birk aus reinem Imponiergehabe über den Höllenschlund springen, bis der Borkalümmel ausrutscht und in die Schlucht fällt (wo er glücklicherweise auf einem Felsvorsprung Halt findet, bis Ronja ihn wieder herausgezogen hat).

Purer Nervenkitzel! Für mich zumindest. Töchterlein ratzt dabei selig weg. Ich dagegen kriege bis drei Uhr nachts kein Auge zu – da kann sich Sebastian Fitzek noch eine Scheibe von abschneiden. Ronjas Vater Mattis reagiert da etwas impulsiver: Er schmeißt vor Wut den Hammelbraten an die Wand. Allerdings nicht, weil sein Augapfel von Töchterlein ihn mit ihrer lebensmüden Hopserei in den Wahnsinn getrieben hat. Sondern weil die halbe Burg mittlerweile von Borkaräubern bewohnt wird.

Ronja Räubertochter

Also, da bin ich anders. Wachsame Nachbarn kann man nie genug haben, finde ich. Neulich zum Beispiel hat Regine von gegenüber geklingelt, weil vor unserem Gartentor einige Stücke Straßenkreide herumrollten. War ich richtig dankbar für – könnte ja jemand drauf ausrutschen und sich alle Knochen brechen!

Die Eltern berühmter Kinderbuchhelden dagegen? Tiefenentspannt – und kriminell verantwortungslos. Efraim Langstrumpf zum Beispiel: der klassische U-Boot-Vater. (Weil er nie auftaucht.) Dass sein Töchterlein mit den Füßen auf dem Kopfkissen schläft, mag ja gerade noch angehen – die Gefahr des plötzlichen Kindstods soll nach dem vollendeten ersten Lebensjahr ja rapide abnehmen.

Aber ansonsten? Ein Affe im Haus – schon mal was von Tollwut gehört? Letalität liegt nach Ausbruch bei 100 Prozent, ich sag’s ja nur. Wo Tommy und Annika einen Limonadenbaum sehen, sehe ich eine morsche Todesfalle. Von Hobbys wie Räuberverhauen mal ganz zu schweigen. Stärkstes Mädchen der Welt hin oder her, aber wäre Mama Langstrumpf noch am Leben, würde dieses Kind ganz sicher nicht in Strumpfhaltern herumspringen. Die stellen nämlich – neben ihrer möglichen Anziehungskraft auf Pädophile – ja wohl auch klar ein Strangulationsrisiko dar.

Pippi Langstrumpf

Klar, es ist total wichtig, Kindern den Wert von mutigem Handeln zu vermitteln. Zivilcourage und so. Aber: Die Grenze zwischen Mut und selbstmörderischem Leichtsinn ist halt haarfein. Superheldinnenmäßig am Toaster herumfummeln und Verbrecherbanden zur Strecke bringen wie Paula Power – also sorry, aber das fällt ja wohl kaum unter kindgerechte Nachmittagsbeschäftigung. Gibt's keine anderen Hobbys? ("Paula Power entdeckt Makramee für sich" - das wäre doch mal ein prima Titel!) Ich habe auch nichts gegen Enid Blyton. Aber was machen eigentlich die Mütter von Julian und Dick, Anne und George, während ihre Bälger sich unbeaufsichtigt als Möchtegern-Hilfspolizisten aufspielen? Kuchenbacken – wahrscheinlich mit reichlich Industriezucker und Legebatterie-Eiern!

Ebenfalls interessant: Lese hier mehr über die besten Kinderbücher aller Zeiten.

Paula Power - Die komplette 1. Staffel

Immerhin gibt es noch ein paar Kinderbuchautoren, die sich ihrer pädagogischen Verantwortung bewusst sind. „Dieses Buch auf keinen Fall ablecken!“ warnt ein aktueller Titel schon auf dem Cover (leider bei Audible nicht erhältlich - aus naheliegenden Gründen.) Aber grundsätzlich finde ich sowas super - dass Mikroben die wahren Monster sind, kann man den Kleinen nicht genug früh eintrichtern. Karius und Baktus ist deswegen einer der wenigen Kinderbuch-Klassiker, die sich meine Tochter gerne anhören darf – ohne anschließenden mütterlichen Vortrag über den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit. (Will sie aber komischerweise gar nicht.)

Karius und Baktus

Zum Glück stellen wenigstens Vampire, Geister und Hexen im Alltag heutiger Kinder vernachlässigbare Risiken dar. Weswegen meine Tochter Ghostsitter hören darf bis zum Abwinken. Man will den Kleinen ja auch nicht jeden Spaß verbieten. Ein Glück, dass der Nachschub an Fantasybüchern schier unerschöpflich ist. So lange sie mit Petronella Apfelmus, Liliane Susewind und Konsorten beschäftigt ist, kommt sie wenigstens nicht auf die Idee, sich auf so ein lebensgefährliches Pferdevieh setzen zu wollen. Wie alle diese Harakiri-Bibis, -Wendys, -Emmys und -Connis. (Bitte einfach mal „todesursache sturz vom pferd kind“ googeln: 161.000 Ergebnisse. Na bitte.)

Ghostsitter: Die komplette 1. Staffel

Neulich habe ich versucht, meinen Kindern klar zu machen, dass wahrer Mut sich sowieso nicht darin zeigt, Verbrecherbanden zur Strecke zu bringen oder Monster zu jagen. Sondern in ganz kleinen Handlungen. In einem beherzten „Nein!“ zur richtigen Zeit zum Beispiel. Das hat sogar der Dreijährige sofort begriffen. Seither machen beide Kinder sehr ausgiebig von ihrem Recht Gebrauch, selbstbewusst ihre persönlichen Grenzen zu verteidigen. Aufräumen? „Nein, Mama.“ Zähneputzen? „Das ist MEIN Körper!“

Ich bin stark, ich sag laut Nein! So werden Kinder selbstbewusst

Natürlich bringen sie mich damit zur Weißglut. Mittlerweile habe ich aber gelernt, dass auch „Mut zur Wut“ voll okay ist und die moderne Mutter ihrem Unmut auch mal ganz ungeniert Luft machen darf.

Zum Abschluss würde ich gerne ein paar konstruktive Vorschläge für pädagogisch sinnvolle Kinderbücher einbringen, die den Wert von Mut und Zivilcourage vermitteln, ohne deswegen zu lebensgefährlichem Aktionismus aufzurufen: „Conny beobachtet einen Verkehrsdelikt und ruft vom Handy aus die Polizei“. „Fünf Freunde melden einen Facebook-Stalker“. „Bibi wird gemobbt, Tina schaltet die Schulpädagogin ein“. Oder, ganz aktuell: „Liliane Susewind trägt auch auf dem Schulweg Maske“. Ich glaube, diese Titel hätten echt das Zeug zum Klassiker – und ich könnte endlich wieder beruhigt einschlafen.

Geheimtipp: Der Ickabog

Der Ickabog