Die Niederlande sind zweifellos für viele Dinge bekannt – Coffeeshops, das Rotlichtviertel von Amsterdam, nicht zu vergessen Goudakäse und Fahrräder. Auf kultureller Ebene haben sich die Holländer vor allem mit ihren großen Malern ins Weltkulturerbe eingeschrieben: Rembrandts „Nachtwache“ und van Goghs „Sonnenblumen“ kennt so ziemlich jeder, Mondrians abstrakte Farbmuster auch. Aber was ist mit Literatur? Gibt’s eine Weltliteratur aus den Niederlanden, über die man das Land entdecken und vielleicht sogar besser verstehen könnte?
Der einzige Buchtitel, von dem vermutlich jeder schonmal gehört hat, ist „Het Achterhaus“, besser bekannt als Das Tagebuch der Anne Frank. Diese Coming-of-Age-Geschichte der jungen Anne Frank – geschrieben in einem Hinterhaus an der Prinsengracht in Amsterdam, wo sie sich als deutsche Jüdin vor den Nazis verstecken musste, bevor sie deportiert und im KZ ermordet wurde – bewegt seit Jahrzehnten Leser auf der ganzen Welt. Und mit dem Buch in der Hand stehen täglich Scharen von Besuchern vorm Anne-Frank-Haus in Amsterdam, die jene Kammer sehen wollen, in der Anne ihr Tagebuch schrieb. Es ist eines der ergreifendsten Werke der Weltliteratur, das alle irgendwie mit den Niederlanden assoziieren, aber kaum als „holländisches“ Buch wahrnehmen, auch wenn es zuerst in niederländischer Sprache veröffentlicht wurde. Erst danach folgten die vielen (vielen!) Übersetzungen und Verfilmungen.
Zum Leben von Anne Frank (1929-1945) hat Melisa Müller eine Biografie geschrieben, die von Katja Riemann eindringlich gelesen als Hörbuch vorliegt. Darin wird natürlich auch Annes Leben im Amsterdamer Hinterhaus an der Prinsengracht geschildert, ebenso die Entstehung des berühmten Tagebuchs, das nach wie vor ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen des Nazi-Terrors ist.
Die Dunkelkammer des Damokles
Dieser Terror wütete auch in den Niederlanden und prägte die niederländische Literatur der Nachkriegszeit entscheidend. Er prägte bis in die allerjüngste Vergangenheit auch das Verhältnis vieler Niederländer zu den angeblich so humorlosen „Moffen“ (abwertender Slang-Ausdruck für „Deutsche“), die jeden Sommer wie Heuschrecken übers Land herfallen und an den Nordseestränden Urlaub machen – mit „besetzten“ Gebieten im Sand, die sie wie eine Burg verteidigen. So zumindest das Klischee, das noch in den späten 1990er-Jahren in Zeitungskarikaturen zu sehen war, etwa bei Heiko Sakurai in seinem Cartoon „Die Deutschen und ihre Kuhlen“.
Als ich selbst Anfang der 2000er-Jahre von München nach Amsterdam zog und am Goethe Institut an der Herengracht einen Holländischkurs belegte, erklärte uns unser Dozent Dik Linthout, dass es eigentlich nur zwei niederländische Romane von Weltgeltung gäbe. Obwohl ich eine hoffnungslose Leseratte bin und sogar Literaturgeschichte studiert habe, kannte ich beide Titel nicht. Beide haben mich jedoch – in deutscher Übersetzung – tief beeindruckt. Und im Fall von Willem Frederik Hermans „Die Dunkelkammer des Damokles“ hat das Buch mein Verständnis vom komplizierten Verhältnis der Niederländer zu den Deutschen und der deutschen Besetzung fundamental verändert.
Hermans Roman aus dem Jahr 1958 erschien erst 2001 in einer deutschen Fassung von Waltraud Hüsmert, so als hätte man sich vorher mit dem furios erzählten Thriller um einen vermeintlichen Widerstandskämpfer aus Voorschoten (in der Nähe der Universitätsstadt Leiden) nicht in Deutschland beschäftigen wollen – oder dürfen?
Das Buch beschreibt die schizophrene Situation von Hauptfigur Osewoudt, der während der Nazi-Besatzung der Niederlande zwischen 1940-1945 über den mysteriösen Dorbeck zur Untergrundbewegung kommt, mit der er viele Anschläge gegen die Gestapo ausführt. Nach dem Krieg wird Odewould verhaftet und als Kollaborateur angeklagt. Im Gerichtsverfahren wird seine Geschichte neu aufgerollt. Sein Problem: niemand kann bezeugen, dass er das, was er vorgibt getan zu haben, wirklich getan hat. Als Zeuge ist vor allem Dorbeck nicht auffindbar, so als habe er nie existiert. Am Ende des Romans läuft es einem als Leser eiskalt über den Rücken, wenn man begreift, was das bedeutet.
Das Buch ist „edgy“ und „unbequem“, weswegen es in den Niederlanden beim Erscheinen einen Skandal auslöste. Denn es rüttelte am Selbstbild vieler Niederländer, dass sie alle im Widerstand gegen die Nazis gewesen seien. (Wie es der patriotische Paul-Verhoeven-Film „Soldaat van Oranje“ von 1977 suggeriert.) Dem steht die traurige Tatsache entgegen, dass in keinem anderen von den Nazis besetzten Gebiet Juden eine so geringe Überlebenschance hatten: 79 Prozent der niederländischen Juden kam um, in Belgien und Norwegen waren es 40 Prozent, in Frankreich mit seiner kollaborierenden Vichy-Regierung 20 Prozent, im faschistischen Italien 15 Prozent, wie der Historiker Raul Hilberg vorrechnete. Warum war das so?
Wer in Amsterdam ins Jüdische Museum geht, kann dort die „Quittungen“ sehen, die Niederländer über den Geldbetrag bekamen, wenn sie Juden an die deutschen Besatzer „meldeten“. Und das taten viele, um sich etwas Geld dazu zu verdienen. Diese Aufarbeitung der eigenen Schuld – als „Handelsnation“, die im Zweifelsfall auch mit Menschenleben Geld zu machen bereit ist – hat in den Niederlanden erst in den letzten 20 Jahren an Fahrt aufgenommen. Paul Verhoevens Film „Zwartboek“ („Das schwarze Buch“) von 2006 ist da ein wichtiger Meilenstein, der die lang gehegte Widerstandslegende gegen den Strich bürstet.
Es gibt inzwischen etlichen wichtige Dokus, die regelmäßig im holländischen Fernsehen laufen, die diese Fragen detaillierter beleuchten – auch die Frage, warum über die „Kollaboration“ so vieler Niederländer auf Alltagsebene so lange geschwiegen wurde, während die „großen Fische“ mit gnadenloser Vehemenz aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden. Als müssten sie für das büßen, was viele andere auch taten, nur nicht so sichtbar und gut dokumentiert.
Inzwischen wird auch die Schuldfrage im Kontext der einstigen Kolonialherrschaft in West-Indien neu gestellt und diskutiert, ob das sogenannte „Goldene Zeitalter“ von Rembrandt & Co. wirklich so golden war, wenn die Mehrzahl der damals lebenden Menschen unter brutaler Unterdrückung und Ausbeutung litt.
Ich erinnere mich gut, dass es solche Debatten nicht gab, als ich in den Niederlanden ankam und ich mir mehr als einmal anhören musste, wie dankbar ich gefälligst zu sein hätte, dass man mich als „Moff“ so freundlich behandle. Als sei Freundlichkeit keine Selbstverständlichkeit, trotz des Easy-going-Images, das die Niederländer gern von sich verbreiten. Das allerdings nur teils zutreffend ist. (Komischerweise wurde ich in Deutschland immer als der Ausländer mit dem irischen Vater gesehen, jetzt war ich auf einmal der Deutsche.)
Willem Frederik Hermans (1921-1995) war ein unbequemer Intellektueller, der immer wieder mit kritischen Kommentaren auf dieses Imageproblem von Außen- und Selbstwahrnehmung seiner Landsleute einging. Das führte zu so vielen Anfeindungen, dass Hermans in den 1970er-Jahren nach Paris ins Exil ging. Trotzdem wurde er mit Ehrungen überhäuft, unter anderem bekam er den „Prijs der Nederlandse Letteren“. Für ihn war das die bedeutendste Ehrung, weil sie von seinen Mitbürgern kam und seine Bedeutung endlich anerkannte. Zusammen mit Harry Mulisch und Gerard Reve gehört Hermans inzwischen offiziell zu den „Großen Drei“ der niederländischen Nachkriegsliteratur.
Während es von „Die Dunkelkammer des Damokles“ keine Hörbuchausgabe gibt, existieren mehrere internationale Verfilmungen, die allerdings die Brillanz und Ambivalenz des Buchs nicht mal annähernd einfangen.
„Rituale“
Bevor ich gleich zu Mulisch und Reve komme, als den beiden anderen der „Großen Drei“, möchte ich noch das zweite Werk vorstellen, das unser Dozent Dirk Linthout vom Goethe Institut uns als „must read“ ans Herz legte: Cees Nootebooms „Rituale“ von 1980. Der Roman verhalf seinem Autor (geboren 1933) zum internationalen Durchbruch: mit einer existenzialistischen Geschichte über den Versuch der beiden Hauptfiguren, ihrem als sinnlos empfundenen Leben durch strikte Einhaltung verschiedener Rituale Halt zu geben. Letztlich führen die Rituale jedoch zum Tod eines der Protagonisten, den auch das Zubereiten einer asiatischen Teezeremonie nicht vor seinen Depressionen retten kann.
In der Beschreibung des Lebens von Intellektuellen im Amsterdamer Grachtengürtel der 1970er-Jahre reflektiert Nooteboom eine Welt, die es nicht mehr gibt, seit das Zentrum der Stadt zu einer Art Disneyland für Touristen geworden ist und kaum mehr Einheimische dort wohnen, beziehungsweise es sich leisten können, dort zu wohnen. Stattdessen ist das Zentrum heute ein Airbnb-Paradies, mit allen damit zusammenhängenden Konsequenzen.
Nooteboom wird in Deutschland eine größere Bedeutung innerhalb der niederländischen Literatur der Gegenwart beigemessen als in den Niederlanden selbst. So wurde er Anfang der 1990er-Jahre von Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Rüdiger Safranski für den Literatur-Nobelpreis ins Gespräch gebracht, während er in dem zur gleichen Zeit entstandenen Standardwerk „Nederlandse Literatuur, een geschiedenis“ gerade mal in Nebensätzen Erwähnung findet. Der Literaturwissenschaftler Ralf Grüttemeier meint, dass dies weder durch eine grundsätzliche Überbewertung von Nootebooms Texten in Deutschland noch durch eine Unterbewertung in seiner Heimat zu erklären sei. Vielmehr spiele es eine Rolle, dass Nooteboom in seiner Heimat stets ein Außenseiter im Literaturbetrieb gewesen sei, während der Suhrkamp-Verlag ihn in Deutschland durch zahlreiche Lesungen einem breiten Publikum bekannt gemacht habe.
„Rituale“ gibt es leider nicht als Hörbuch, auch von anderen seiner wichtigen Werke – wie etwa den „Berliner Notizen“ – existiert bislang keine Audiofassung. Nur die Gedichte Nootebooms wurden aus Hörbuch veröffentlicht. Aber das kleine Buch „Rituale“ ist dennoch ein Roman, der mich viel übers Leben gelehrt hat. Und mir ein Amsterdam vor Augen führte, dass ich knapp verpasst habe, weil diese Welt versunken war, als ich dort im neuen Millennium ankam. Ich konnte nur noch die Hülle sehen – also die vielen Orte und Cafés, die ehemaligen Treffpunkte der niederländischen Intelligenzia – die Nooteboom beschreibt, die Starbucks & Co. weichen mussten. Was es umso spannender macht, das Buch zu lesen.
„Die Entdeckung des Himmels“
Der (!) große Roman über Amsterdam und das Leben dort zwischen den 1960er- und 80er-Jahren ist natürlich der Weltbestseller „De ontdekking van de hemel“ von Harry Mulisch (1927-2010), besser bekannt als Die Entdeckung des Himmels. Den 1992 erschienenen Roman schenkte mir mein Freund, kurz nachdem ich zu ihm gezogen war in den Willemsparkweg in Oud-Zuid, der Stadtteil neben dem Vondelpark. Er meinte, das Buch würde mir einen Eindruck von Amsterdam geben und vom ganzen Land.
Auch wenn die „Entdeckung des Himmels“ am Schluss stark ins Esoterische und Fantasy-hafte abdriftet (mit einem Erlöser der Menschheit), wird im großen ersten Teil des Romans die intensive Freundschaft der beiden Männer Max Delius und Onno Quist geschildert, deren biographische Verzahnungen von zwei Engeln beeinflusst werden. Dabei wird mit viel Humor ein Leben zwischen Stadt und Land, Universität und Politik in den Niederlanden ausgebreitet, das ich verschlungen habe. Weil diese Freundschaftsgeschichte – heute würde man vielleicht „Bromance“ sagen – einen echten Sog entwickelt. Und weil es mich total faszinierte, wie jemand einfach so in einem Schloss wohnen konnte, was in den Niederlanden nicht so ungewöhnlich ist, wie’s klingt. Aber das habe ich erst später begriffen.
2007 wurde „Die Entdeckung des Himmels“ im Rahmen einer Aktion der niederländischen Tageszeitung „NRC Handelsblad“ zum besten niederländischsprachigen Buch aller Zeiten gewählt. Der Regisseur Jeroen Krabbé verfilmte das Buch 2001 mit Stephen Fry in der Hauptrolle, der Film gilt als teuerste niederländische Filmproduktion überhaupt. Aber das Buch bleibt mit seiner Detailverliebtheit eine Klasse für sich. Als Hörbuch wurde es mit Udo Samel und anderen Stars auf Deutsch eingesprochen.
Die Perspektive marokkanischer Einwanderer
Ein komplett anderes Bild vom modernen Leben in Amsterdam zeichnet der marokkanisch-niederländische Autor Mano Bouzamour (Jahrgang 1991) in seinem Debütroman „De belofte van Pisa“ (2013), auf Deutsch drei Jahre später als „Samir, genannt Sam“ erschienen. Darin beschreibt Bouzamour eine Jugend im Einwanderervierteln De Pijp in Amsterdam. Auf einem gestohlenen Flügel spielt Samir morgens klassische Musik, beim Freitagsgebet in der Moschee kämpft er mit Fantasien von blonden, nackten Teufelinnen, im Geschichtsunterricht träumt er von Rache für Anne Frank, am glücklichsten ist er jedoch, wenn er nachts mit seinem geliebten Bruder auf der Vespa durch die Stadt rauschen darf. So wächst Sam als Sohn marokkanischer Einwanderer heran, bis sein großer Bruder, der von Betrug und Diebstahl lebt, verhaftet wird und für sechs Jahre ins Gefängnis muss. Doch Sam verspricht ihm, allen Widerständen zum Trotz den Schulabschluss im bürgerlichen Elitegymnasium zu schaffen, und meistert ein Leben voller Kontraste mit viel Witz und Frechheit.
Das Buch löste bei Erscheinen einen Aufschrei innerhalb der marokkanischen Community aus. Bouzamour wurde bedroht, weil er ein vermeintlich „ehrrühriges“ Bild von marokkanischen Einwanderern gemalt und dabei auch den Islam lächerlich gemacht habe. Sogar seine eigene Familie verstieß ihn. Aber die holländische Öffentlichkeit und internationale Presse liebte das Buch von Anfang an, es wurde ein Bestseller und verglichen mit J. D. Salingers „Fänger im Roggen“. Diesen Roman hat Bouzamour selbst als sein unmittelbares Vorbild genannt und auch verraten, dass er das Buch als Teenager aus der Amsterdamer Stadtbibliothek gestohlen habe.
Eine Hörbuchausgabe gibt es bislang nicht auf Deutsch, aber es existiert eine gelungene Filmversion von 2019, mit Shahine El-Hamus als Samir.

„Die glückliche Hausfrau“
Während Mano Bouzamour mit „Samir, genannt Sam“ den Finger auf den wunden Punkt des aktuellen Zusammenlebens in den Niederlanden legt – das geprägt ist von starken Spannungen zwischen einzelnen sozialen und religiösen Gruppen, zu denen auch die protestantischen Hardliner zählen, die sich der viel gelobten holländischen Toleranz widersetzen (die nie so existierte, wie sich Deutsche das gern vorstellen) –, beschreibt Heleen van Royen ein ganz anderes modernes Holland in „De gelukkige huisvrouw“ (2010), auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Die glückliche Hausfrau“.
Ich hätte diesen provozierenden Bestseller vermutlich gar nicht mitbekommen, wenn nicht eine der besten Freundinnen meines Lebenspartners mit van Royen befreundet wäre und uns erzählte, dass weite Teile des Romans auf der Geschichte ihrer eigenen Schwangerschaft basierten, die van Royen recycelte.
Es geht um die junge Lea Meyer, die alles hat, was ihr Herz begehrt: ein Leben in Wohlstand, Freunde, Partys, Shopping in Amsterdam. Doch ihr Mann wünscht sich ein Kind. Lea gibt nach, und alles verläuft nach Plan. Bis zur Geburt, bei der Lea völlig verrücktspielt. Sie will kein sabberndes Muttertier werden und rührt damit an unsere heiligsten Tabus, bis uns das Lachen im Halse stecken bleibt.
Heleen van Royen (geboren 1965) konnte sich nach dem Erfolg des Buchs und der Verfilmung ein Haus in Spanien kaufen und lebt nun fern von den Niederlanden, die sie nur noch sporadisch besucht. Von den krassen Spannungen, die Bouzamour schildert, liest man bei ihr nichts. Es ist eine „privilegierte“ und „weiße“ Welt, die für den immensen Wohlstand des Landes verantwortlich ist, den man sofort sieht, wenn man über die Grenze kommt. Es ist die andere Seite des modernen Holland, der Bouzamour ein Gegengewicht verleiht. Beiden Büchern ist gemein, dass sie mit typisch niederländischem Sarkasmus die Gesellschaft beschreiben.

Schwarzhumorige Satire
Ganz anders funktioniert die schwarze Satire im Roman „Het diner“ von Herman Koch (geboren 1953), zu Deutsch Angerichtet. Es erschien 2009 und wurde sofort ein Welterfolg, der bislang dreimal (!) verfilmt wurde. Koch ist ein gnadenloser Parodist, der die TV-Sendung „Jiskefet“ fürs holländische Fernsehen erfand, deren Witze oft knallhart unter der Gürtellinie landen. Was viele lieben, andere als „rassistisch“ ablehnen.
Es geht in „Angerichtet“ um den ehemaligen Geschichtslehrer Paul Lohman. Er und seine Frau Claire treffen sich in einem teuren Amsterdamer Restaurant mit seinem älteren Bruder Serge, einem bekannten Politiker und Kandidat, um niederländischer Premierminister zu werden. Mit dabei ist Serges Frau Babette.
Beim Essen besprechen die vier eine furchtbare Gewalttat, die ihre beiden Kinder Michel und Rick begangen haben: sie haben einen Obdachlosen vor einem Bankautomaten in Brand gesteckt und wurden dabei von Sicherheitskameras gefilmt. Bislang hat niemand sie erkannt, außer die Eltern. Und nun besprechen diese, wie man mit der Situation umgehen könnte. Wobei „weiße Privilegien“ hier eine Dimension annehmen, bei der es einem genauso kalt über den Rücken läuft wie am Ende von Hermans‘ „Dunkelkammer des Damokles“. Das Buch ist als Analyse der politischen Upper Class in den Niederlanden gnadenlos. Und wie ein Faustschlag ins Gesicht, dabei aber immer witzig. Das ist die Kunst von Herman Koch!
Gerard Reve und „Herrenliebe“
Zum Schluss muss natürlich noch der dritte der „Großen Drei“ erwähnt werden: Gerard Reve (1923-2006). Nach seinem frühen Romandebüt „Die Abende“ 1947 und den Novellen „Werther Nieland“ und „Der Untergang der Familie Boslowitsch“ zog Reve nach England, um Literatur in einer „Weltsprache“ zu verfassen. 1963 debütierte er nach eigenen Angaben im Alter von 40 Jahren zum zweiten Mal: Es erschien „Op weg naar het einde“, ein Briefroman, der schon stark gekennzeichnet war von den literarischen Tendenzen, die Reve in den nächsten Jahrzehnten als Schriftsteller beschäftigen sollten: Mit beißendem Sarkasmus trat Reve durch seine literarischen Figuren als reaktionärer und provokanter homosexueller Meinungsmacher auf, dem S/M-Praktiken nicht fremd waren und der gleichzeitig darauf pochte, dass die römisch-katholische Kirche den einzig wahren Glauben auf Erden vertrete. Er verteidigte den Papst, selbst wenn der sich gegen Homosexualität und Abtreibung aussprach. Dazu kommt in Reves Werk eine vehemente Kritik an Intellektuellen, Kommunisten, Stalinisten, Linken und all den Niederländern, die sich noch zu keiner Vergangenheitsbewältigung des Zweiten Weltkrieges durchgerungen haben.
Reve stammt aus einem kommunistischen und atheistischen Elternhaus und ließ sich erst 1966 in die römisch-katholische Kirche aufnehmen. Im selben Jahr musste er sich vor Gericht gegen den Vorwurf der Blasphemie verteidigen, da er in seinem Roman „Nader tot U“ (deutsch: „Näher zu Dir“, 1970) die Vorstellung beschrieben hatte, sich mit Gott in Gestalt eines „einjährigen, mausgrauen Esels“ geschlechtlich zu vereinigen. Reve berief sich auf sein Recht, in seiner Literatur sein persönliches Gottesbild darzustellen und gewann den Prozess.
Nicht zu Unrecht wurde Reve wegen seines Hangs zur Marienverehrung, gepaart mit dem Thema der ausschweifenden homosexuellen Liebe – von Reve „Herrenliebe“ genannt – eine gewisse Nähe zu Jean Genet nachgesagt.
Reve erkrankte 1999 an Alzheimer und lebte ab 2005 in einem Pflegeheim in Belgien, betreut von seinem Freund Joop Schafthuizen.
Auch wenn mich selbst Reve als homosexueller Autor stark interessierte, waren die deutschen Übersetzungen seiner Skandalbücher so schlecht, dass sie nachgerade unlesbar sind. Es dauerte, bis ich gut genug Niederländisch sprach, um sie im Original aufzuklappen. Als Hörbuch gibt’s von Reve nur The Evenings in englischer Sprache.
Vielleicht sind die Themen, mit denen sich Reve auseinandersetzte, für Leser außerhalb der Niederlande schwer nachvollziehbar? Möglicherweise wirken sie auch inzwischen aus der Zeit gefallen. Dennoch sind sie ein wichtiges Dokument der Nachkriegsgesellschaft in den Niederlanden, die auch von Hermans und Mulisch – auf jeweils andere Weise – reflektiert wurden.
Frau Antje und Herr Mustermann
Dass die Bücher von Reve, Hermans & Co. zu großen Teilen in Deutschland so wenig bekannt sind, liegt auch daran, dass die Deutschen das, was im kleinen Nachbarland passiert, oft nur stark eingeschränkt wahrnehmen. Mein Dozent am Goethe Institut, Dik Lindhout, hat zu dem komplizierten Verhältnis der beiden Nationen ein witziges Sachbuch herausgegeben mit dem Titel „Frau Antje und Herr Mustermann: Niederlande für Deutsche“. Darin sind unendliche viele Zitate versammelt und wird nebenbei darauf hingewiesen, dass zwischen Holland und Deutschland die „erotischste Grenze“ Europas verläuft: „Nirgendwo in Europa sind die Liebesbeziehungen zwischen den Bewohnern zweier Nachbarländer intensiver“, heißt es bei Lindhout.
Und: „Umfragen haben ergeben, dass die Niederlande jungen deutschen Touristen noch immer als ein Symbol für Freiheit gelten: alles ist erlaubt, alles ist unkonventionell, wobei die Niederlande mit Amsterdam gleichgesetzt werden.“ Dass die Niederlande nicht gleichbedeutend mit Amsterdam sind und dass es nicht ganz so „unkonventionell“ und „frei“ zugeht, wie es von außen im Kontext eines Kurzbesuchs scheinen mag, daran erinnern alle hier vorgestellten Bücher. Denn Holland ist nicht das „Land of Dope and Glory“, sondern eine Kulturnation mit unendlichen Widersprüchen, die noch lange nicht aufgelöst sind.
Übrigens: Wer sich für die Vergangenheit der Niederlande als Kolonialmacht interessiert, sollte unbedingt „Max Havelaar“ von Multatuli lesen, von dem in Amsterdam an der Singel-Gracht ein Denkmal steht, an dem fast jeder Tourist vorbeikommt, ohne zu wissen, wer das ist. Multatuli (Lateinisch für „Ich habe vieles ertragen“) ist das Pseudonym von Eduard Douwes Dekker (1820-1887), dessen Roman über die Verbrechen der Niederländer im heutigen Indonesien an jeder holländischen Schule zum Bildungs- und Literaturkanon zählt. Die Gesellschaft für niederländische Literaturwissenschaft hat „Max Havelaar“ 2002 zum wichtigsten in niederländischer Sprache geschriebenen Werk erklärt, das früher auch in Deutschland ziemlich bekannt war, heute allerdings nicht mehr.
Seinen literarischen Rang verdankt „Havelaar“ dem Umstand, dass es nicht nur Literatur ist: Indem Multatuli die Form des Romans auf den letzten Seiten durchbricht, wächst er über die Nachahmung literarischer Vorbilder und über seine Zeit hinaus. Und die Diskussion um das Verhalten der Niederländer in ihren ostindischen Kolonien hat in den Niederlanden selbst gerade erst Fahrt aufgenommen, wovon der brandaktuelle Amazon-Prime-Film „De Oost“ („Der Osten“) zeugt. Darin sieht man, wie Niederländer – kaum dass sie selbst die Nazi-Herrschaft abgeschüttelt hatten – in den späten 1940er-Jahren im damaligen Batavia mit voller Brutalität gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonie vorgingen, mit Methoden, die schockierend sind und über die lange nicht öffentlich gesprochen wurde.

Heute ist diese Diskussion in „woken“ Zeiten voll entfacht. Man fragt neuerdings in Ausstellungen nach der Position von Schwarzen zu Rembrandts Zeit und nach Menschenhandel bei der Ostindien Gesellschaft VOC (Vereenigde Oostindische Compagnie). Man fragt nach dem genauen Verhalten der Niederländer während des Zweiten Weltkriegs und nach 1945. Schließlich wird auch über heutige Formen des Zusammenlebens leidenschaftlich diskutiert, denn die Niederlande sind eine Einwanderungsgesellschaft.
Dadurch sind viele der hier vorgestellten Bücher nochmal neu in den Fokus gerückt. Sie werfen ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, die mehr ist als Gouda-Käse, Rotlichtviertel und Coffeeshops. Und das macht die Lektüre so spannend.
Und dass mein eigener Freund mal in ein kleines Schloss auf dem Lande ziehen würde, gleich um die Ecke von Leiden, hätte ich mir vor 20 Jahren beim Lesen von Harry Mulisch und Willem Hermans auch nicht träumen lassen. Manchmal imitiert das Leben die Literatur.
Die Welt mit den Ohren entdecken
Auch andere Länder könnt ihr übrigens gut über Hörbücher verstehen lernen, zum Beispiel die USA oder Schottland, Österreich, die Italien oder Russland. Hört einfach rein!