Was im Kino knackig „Biopic“ heißt, trägt im Buchladen den etwas umständlichen Titel „Romanbiografie“. Das Subgenre widmet sich einer historischen Persönlichkeit und schmückt biografische Leerstellen dabei farbenprächtig aus. So entstehen fesselnde Porträts, in denen wir scheinbar Vertraute aus dem Geschichtsunterricht ganz neu kennenlernen – als Menschen mit Gedanken, Gefühlen, Ecken und Kanten.

Was sind Romanbiografien?

Die Romanbiografie war als Genre in den 1920er- und 30er-Jahren schon einmal sehr beliebt. Lion Feuchtwanger veröffentlichte 1923 „Die häßliche Herzogin Margarete Maultasch“, eine mit fiktionalen Elementen angereicherte Biografie über die kluge Margarete, Tochter des einstigen Herzogs von Kärnten. Stefan Zweig, den man heute vor allem mit seiner „Schachnovelle“ verbindet, schrieb eine ganze Reihe lesenswerter fiktionaler Biografien, unter anderem über Königin Marie Antoinette, den Seefahrer Magellan und den französischen Politiker Joseph Fouché. Und Heinrichs Manns biografische Romane über den französischen König Henri Quatre zählen sogar zu dessen wichtigsten Werken.

Seit den Nullerjahren erfährt die Romanbiografie eine Renaissance. „Autoren nutzen gegenwärtige Schreibweisen, um sich mit Persönlichkeiten aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen und diese einem gegenwärtigen Lesepublikum schmackhaft zu machen. Aber nicht als objektivierbare Biografie, sondern als eigenes intellektuelles Projekt“, fasst der Literaturwissenschaftler Leonhard Herrmann das Phänomen zusammen. „Man rückt also das eigene Schreiben und die eigene Zeit in ein kritisches Verhältnis zu der Figur, die erzählt wird.“ So fesseln die hier vorgestellten Romanbiografien Fans von historischen Romanen und Biografien & Erinnerungen gleichermaßen – und verraten zugleich etwas über unsere eigene Zeit.

Fesselnde Romanbiografien über blaublütige Frauen

Sisi – ein unschuldiger Wildfang mit großen Rehaugen, wie es uns die Verfilmung mit Romy Schneider weismachen will? Von wegen. Autorin Karen Duve befreit das Bild der österreichischen Kaiserin von einer dicken Schicht aus Kitsch und Klischees. In ihrem biografischen Roman treffen wir im Jahr 1876 auf die Kaiserin. Sisi gilt mit ihren 38 Jahren als legendäre Schönheit und obendrein als beste Reiterin ihrer Zeit.

Sisi

Bei einem Aufenthalt auf dem ungarischen Schloss Gödöllö lädt die Kaiserin ihre Nichte Marie Louise von Wallersee zu sich ein. Doch als die 18-Jährige ihrer Tante die Show zu stehlen droht, schmiedet diese eine raffinierte Intrige gegen die unerwünschte Konkurrentin.

Historisch akkurat und mit der ihr eigenen, beißenden Ironie schildert Karen Duve den kaiserlichen Hof mit seinen verschwenderischen Ritualen. In dessen Mittelpunkt thront eine Narzisstin, die sich ganz über ihre Wirkung auf andere definiert. Aus verschiedenen Perspektiven betrachtet – von ihrem Ehemann bis zur Hofdame – erscheint Sisi hier als ambivalente Figur, die mit eiserner Disziplin an ihrer eigenen Legende strickt. Hörende werden vielleicht an prominente Influencerinnen denken, die das eigene Bild mit allen erdenklichen Mitteln kontrollieren. Vielschichtig und klug.

Die Wahnsinnige

Mit großer Empathie nähert sich Alexa Hennig von Lange dem Gegenstand ihrer Betrachtung. Johanna von Kastilien, genannt Die Wahnsinnige, wird 1503 in die Festung La Mota eingesperrt – von ihrer eigenen Mutter, der tiefgläubigen Königin Isabella von Kastilien.

Auch ihr Vater, ihr Mann und später ihr ältester Sohn sprechen ihr die Regierungsfähigkeit ab und halten die rechtmäßige Königin gefangen – 46 Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Aber ist Johanna wirklich verrückt? Oder ist die ernsthafte, sensible Frau einfach nur so vermessen, an ein selbstbestimmtes Leben in Frieden und Freiheit zu glauben?

Alexa Hennig von Lange, über 40-Jährigen noch als Viva-Moderatorin und Pop-Literatin der ersten Stunde bekannt, zeichnet das plastische Bild einer komplexen Frau, die uns mit ihrer Sehnsucht nach Selbstbestimmung modern und vertraut erscheint. In einer zärtlichen, manchmal auch expliziten Sprache erzählt sie dabei auch von einer Mutter-Tochter-Beziehung.

Mit ihrer Neuinterpretation setzt die Autorin der damaligen Wahrnehmung der historischen Johanna eine moderne Perspektive entgegen. Ob die Königin tatsächlich unzurechnungsfähig war oder ob sie Opfer machtpolitischer Intrigen wurde, bleibt dabei offen.

Romanbiografien über Heldinnen und Dichterinnen

Am Kamin sitzen und sticken? Für die 23-jährige Annette von Droste-Hülshoff ist das die Höchststrafe. Lieber schürft sie in Steinbrüchen nach Mineralien, schreibt leidenschaftliche Gedichte oder mischt sich spitzzüngig in die Gespräche der Männer ein. Keine Frage, dass sich ein solches Verhalten für das adlige Fräulein nicht ziemt.

Fräulein Nettes kurzer Sommer

Dichter Heinrich Straube, ein junger Poet bürgerlicher Herkunft, fühlt sich dennoch zu der ungestümen Nichte seines besten Freundes hingezogen. Aber erwidert sie seine Gefühle? Oder hat sie ein Auge auf seinen adligen Studienfreund August von Arnswaldt geworfen?

Adlige Jungfern und aufstrebende Bürgerinnen zwitscherten wie frisch geschlüpfte Vögelchen. Nicht so Fräulein Nette. Ihr Alt dröhnte ungefragt dazwischen, wenn eine Herrenrunde sich ungestört glaubte, beleidigte die sensiblen Ohren der Männer und erschütterte ihr fragiles Selbstbewusstsein.

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Mit tiefer Sympathie und zugleich erfrischend respektlos nähert sich Karen Duve eine der großen Frauen der Literaturgeschichte: Annette von Droste-Hülshoff. Fräulein Nettes kurzer Sommer zeigt die begnadete Dichterin in jenem entscheidenden Jahr ihres Lebens, in dem sich die sogenannte „Jugendkatastrophe“ zuträgt: Eine Liebesintrige führt zum Zerwürfnis mit ihrem Seelenverwandten Heinrich Straube.

Gefangen in den Konventionen des frauenfeindlichen Biedermeier gab es für Annette kein Liebes-Happy-End. Stattdessen schuf sie ein bedeutendes poetisches Werk. Mit lakonischem Witz, scharfem Blick und historischer Akribie porträtiert Karen Duve neben der berühmten Dichterin auch eine Epoche großer gesellschaftlicher Umbrüche.

Annette, ein Heldinnenepos

Anne Beaumanoir, genannt Annette, wächst in den 1920er und 30er-Jahren in der Bretagne auf. Die Wirtstochter aus bescheidenen Verhältnissen studiert Medizin, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Sie schließt sich der Résistance an – dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung – und rettet zwei jüdische Kinder durch die Kriegsjahre. Nur für ihre große Liebe, einen deutschen Juden, kann sie nichts tun: Er wird gefangen genommen und erschossen. Anne wird Professorin für Neurologie.

Als die mittlerweile verheiratete Anne den Befreiungskampf der Algerier aus der französischen Kolonialherrschaft unterstützt, wird sie dafür zu einer zehnjährigen Haft verurteilt. Sie flieht nach Tunesien, um der Strafe zu entgehen, und verliert den Kontakt zu ihrem Ehemann und ihren Kindern. Doch Anne, immer auf der Seite der Unterdrückten, lässt sich nicht unterkriegen.

Anne Beaumanoir starb im März 2022 im Alter von 98 Jahren. Ihr abenteuerliches Leben hat die Autorin und Übersetzerin Anne Weber zu ihrer Romanbiografie Annette, ein Heldinnenepos inspiriert. „Epos“ ist hier wörtlich zu nehmen: Die kritisch-reflektierende und zugleich humorvolle Hommage kommt komplett in Versform daher.

Das Buch wurde vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels als bester deutschsprachiger Roman des Jahres 2020 ausgezeichnet. Sprecherin Christina Puciata trägt mit feinem Gefühl für die sprachliche Schönheit des Textes vor.

Romanbiografien von Künstlern, Gauklern, Wissenschaftlern

Er ist der berühmteste Komponist seiner Zeit. Doch was nützt das dem sowjetischen Starkomponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch? Stalin hat noch in der Pause die Aufführung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ verlassen. Nun steht Schostakowitsch Nacht für Nacht neben dem Lift seiner Wohnung, um seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung zu ersparen.

Der Lärm der Zeit

Doch niemand kommt – Schostakowitsch entgeht Stalins „Säuberung“. Stattdessen wird Schostakowitsch von der Partei vereinnahmt – seine künstlerische und moralische Integrität steht auf dem Spiel.

Über das Verhältnis von Kunst und Politik wird seit Russlands Überfall auf die Ukraine wieder gestritten. Ist es verwerflich, wenn Künstler sich der Macht beugen, um arbeiten zu können? Der Schriftsteller Julian Barnes beantwortet diese Frage in seiner Romanbiografie Der Lärm der Zeit nicht.

Stattdessen zeigt er im Detail das moralisch-psychologische Dilemma auf, in dem sich Schostakowitsch befand. Die Angst und Scham des Komponisten wird hier nachfühlbar und ermöglicht eine empathische Sicht auf die Menschen, die in der stalinistischen Epoche lebten. Angesichts der aktuellen Ereignisse gewinnt Barnes‘ packende Romanbiografie von 2017 an neuer Brisanz.

Tyll

Man nannte ihn Till Eulenspiegel, auch Dil Ulenspiegel und Dyl Ulenspegel. Der legendäre Schalk war ein gerissener Mann, der durch die Lande zog und seinen Mitmenschen derbe Streiche spielte. Laut Überlieferung wurde Till im Jahr 1290 oder 1300 in Kneitlingen am Elm geboren. Doch der Schriftsteller Daniel Kehlmann versetzt seinen Tyll ins 17. Jahrhundert. Genauer gesagt: in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

In Kehlmanns Roman experimentiert Tylls Vater mit magischen Praktiken und gerät dadurch in den Fokus der Inquisition. Am Tag seiner Hinrichtung flieht Tyll gemeinsam mit der Bäckerstochter Nele. Seine lebenslange Reise führt ihn durch ein vom Krieg verheertes Land – und bringt ihn mit den Großen der Geschichte in Kontakt.

Da die Details über das Leben des tatsächlichen Till Eulenspiegel im Dunkel der Geschichte versunken sind, setzt sich Schriftsteller Daniel Kehlmann in seinem Roman mit der literarischen Gestalt auseinander. Er lässt seinen Tyll auf historisch verbürgte Charaktere treffen, unter anderem auf den „Winterkönig“ Friedrich V. und den schwedischen König Gustav Adolf. Wo genau in diesem Schelmenroman die Grenze zwischen historischer Wirklichkeit und fiktionaler Romanrealität verläuft, lässt sich unmöglich sagen – und gerade das macht den Reiz des Buchs aus.

Die Vermessung der Welt

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist die Welt voller Abenteuer – und Alexander von Humboldt erlebt sie alle. Der Forschungsreisende kriecht in Erdlöcher und auf Vulkane, kämpft sich durch den Dschungel des Amazonas und durch die Steppe. Ganz anders als sein Zeitgenosse Carl Friedrich Gauß, der seine bahnbrechenden Erkenntnisse über die Mathematik und die Himmelskörper im heimischen Göttingen gewinnt.

Mit Daniel Kehlmanns gefeiertem Roman Die Vermessung der Welt begann 2005 der Boom deutschsprachiger Romanbiografien. Ungeniert erdichtet der Autor eine Begegnung zwischen den beiden Genies, die nie stattgefunden hat. Auch sonst strotzt Kehlsmanns so geistreiche wie witzige Doppelbiografie vor farbenprächtigen Details – besonders in der gelungenen Interpretation des Schauspielers Ulrich Noethen.

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