Jetzt kommt sie, die dunkle Jahreszeit! Halloween mit seinen unheimlichen Fratzen. Bäume kahl wie Skelette. Die längste Nacht des Jahres. Wenn der Herbst dem garstigen Winter weicht, wenn Nebel den Mond verhüllt und die Kälte aus der Erde kriecht, geraten wir in Stimmung - in Geisterstimmung! Es muss aber nicht immer Hardcore-Horror sein. Es gibt Gruselgeschichten, mit denen wird es erst so richtig gemütlich.
Kettensägenmassaker gut und schön. Splatter-Horror? Irre Psychopathen? Bestialische Monster? Clowns? Wenn man’s mag, ist das toll. Die Horror-Literatur hat viele Gesichter. Wem das aber zu heftig ist, und wer gerade in der dunklen Jahreszeit trotzdem mal Lust auf ein bisschen Düsternis und Gänsehaut hat, für den haben wir einen anderen Vorschlag. Denn schöner als eine schlaflose Nacht mit bangem Blick auf die Tür ist es doch eigentlich, sich bei Kerzenschein in eine Decke zu kuscheln - wer hat, am Kamin - und einer schaurig-schönen Geschichte zu lauschen, die einen nicht in die Träume verfolgt. “Wohlfühlhorror” nennen wir das.
Was sich dafür bestens anbietet, ist natürlich der sogenannte Schauerroman, auf Englisch Gothic Novel. Da denkt man erstmal an Klassiker wie "Die Drehung der Schraube" von Henry James, "Spuk in Hill House" oder "Wir haben schon immer im Schloss gelebt" von der Grande Dame des subtilen Horrors, Shirley Jackson, "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" oder "Frankenstein". Und damals haben den Lesenden die Haare tatsächlich zu Berge gestanden! Das war richtig harter Tobak!
Aus heutiger Sicht gesehen, sind die Geschichten wesentlich harmloser. Das Tempo ist eher gemächlich, dafür wird viel Zeit auf stimmungsvolle Beschreibungen verwendet. Flackernde Kerzen, quietschende Türen, Schatten im Halbdunkel und heulender Wind über dem Moor - das ist der Stoff, aus dem diese wunderbar altmodischen Geschichten gemacht sind. Die Sprache ist elegant und passend staubig, und oft gesellen sich Tragik oder düstere Romantik hinzu oder gar eine Krimihandlung. Während es manches Mal nicht mit ganz rechten Dingen zugeht, sind in anderen Fällen die Menschen tatsächlich die eigentlichen Monster. Da geht’s dann nicht mehr nur um Grusel, sondern auch um eine Erzählung mit tieferer Bedeutung.
Wie schön, wenn beliebte Sprecher in modernen Adaptionen sich richtig hineinknien in solche düsteren Hörbücher. Zum Teil neu übersetzt und in modernere Sprache übertragen, zum Teil vorsichtig adaptiert, oder einfach mit mehr Schwung und Dramatik gelesen, holen diese Klassiker uns heute wieder gut ab. Das fegt die Spinnweben weg, hat richtig gute Tonqualität, und kommt zum Beispiel als Hörspiel mit passender Geräuschkulisse und Musik nochmal doppelt so schaurig rüber. Das historische Setting mit Kutschen, die über Kopfsteinpflaster rattern, reich beschriebenen Kostümen und technikfreier Altmodischkeit macht bei allem Schaudern diese Art von Horror regelrecht gemütlich, ohne dass deren prickelnder Reiz verfliegt.
Schauerromane gibt’s aber auch in modern. Auch hier spielt sich vermehrt auf einsamen Landgütern oder an abgelegenen Orten etwas Unheimliches ab. Auch hier sind es häufig - wenn auch nicht immer - Frauen, die an einem Ort festsitzen und sich Geistern der Vergangenheit stellen und Geheimnisse entschlüsseln müssen. Oft weiß man nicht, was Einbildung ist und was Wirklichkeit. Psychologische Finesse und starke Figurenporträts gesellen sich zu vielschichtigen, teils in verschiedenen Zeitebenen angesiedelten Plots. In eleganter Sprache, mit atmosphärischen Settings, aber modernerem Rollenverständnis und strafferem Spannungsbogen gelingt so ein sinistrer Spagat aus alt und neu.
Dass es in Märchen zwar oft zauberhaft, aber selten lustig zugeht, wissen wir alle. Oft als lehrreiche Warnungen gedacht, sind Märchenerzählungen tatsächlich manchmal der blanke Horror, wenn Körperteile abgetrennt, Menschen geteert, verbrannt oder gefressen werden oder sich in Bestien verwandeln. Trotzdem haben Märchen ihren Reiz - das zeigt auch die große Beliebtheit von Fantasy-Märchen für Erwachsene. Die verbinden nämlich das Übernatürliche, Gruselige mit archetypischen Figuren, Folklore, Abenteuer und Romantik - und sind heute oft Bühne für starke Frauenfiguren.
Winterlich und Russisch geht es zu bei Katherine Arden, die uns in ihrer "Winternight-Trilogie" mitnimmt in die Welt der erzürnten Hausgeister und des todbringenden Frostkönigs Morozko, angelehnt an das Märchen von "Väterchen Frost". Klirrende Kälte, ein mutiges Mädchen und eine unmögliche Liebe im umkämpften Zarenreich ist die perfekte, düster-romantische Lektüre für die Weihnachtszeit für alle, die es lieber ein bisschen schaurig statt kitschig haben. (Tipp: Auf Englisch gibt es die Trilogie schon komplett als Hörbücher!)
Die bekanntesten Volksmärchen nimmt sich Christina Henry in ihren “Dunklen Chroniken” zur Brust und macht die ohnehin mit Schrecken gespickten Geschichten noch einen Tacken düsterer. Alice im Wunderland bricht mit einem Axtmörder aus der Irrenanstalt aus, Captain Hook deckt die Wahrheit über Peter Pan auf, und die kleine Meerjungfrau ist alles andere als ein liebliches Wesen… Recht brutal geht es zu in diesen Nacherzählungen, denen dennoch der alte Märchenhauch zu eigen bleibt.
Wo Märchen sind, dürfen Hexen nicht fehlen: Alexis Henderson erzählt uns in einer Mischung aus “The Handmaid’s Tale” und puritanischem Roman von einem Dorf unterdrückter Frauen mitten in einem finsteren Wald. Eine davon erfährt, dass ihre Mutter sich einst mit den dort lebenden Hexen verbündete. Ein moderner, gruseliger Roman über Feminismus.
Allen Horror-Trash-Fans bestens bekannt ist die Kult-Hörspielreihe um den Geisterjäger John Sinclair. Der bekämpft mit silbernem Kreuz, Spezialwaffen und tapferen Gefährten als Spezialist für Scotland Yard alles, was sich schon mal durch die einschlägige Horror-Literatur gemordet hat, von Zombies bis hin zu Schwarzmagiern und bösen Göttern. Das wirkt für Ungeübte überzogen und ein bisschen albern, ist für Fans der gepflegten Grusel-Pulp-Fiction aber ein schaurig-schönes Vergnügen.
Auf alten Klassikern basieren dagegen die Hörspiele von Marc Freund. Er schreibt die Geschichten von Dracula und Frankenstein einfach weiter und sorgt mit modernem Sounddesign und einem spielfreudigen Cast von Sprecherinnen und Sprechern für gepflegte old school Unterhaltung mit sanftem Gruselhauch.
Zwischen Fantasy und Horror bewegt sich die Hörspiel-Adaption einer der kultigsten Comic-Serien überhaupt: Neil Gaiman lässt in seinen Sandman-Heften den Herrn über die Traumwelt ein bizarres, fantastisches, dunkles und tief in Mythologie getränktes Netz aus (Alp-)traumgeschichten über die Leserschaft ausbreiten. Einige Geschichten sind sehr blutig und überschreiten die Grenze zum Horror deutlich (und sind auch NICHTS für Kinder!); die meisten sind aber geprägt von einer unglaublichen, mehrschichtigen Imaginationskraft, die immer mit einem kalten Hauch im Nacken einhergeht.
Wer Englisch kann, für den ist das Büffet an Wohlfühl-Horror noch reichhaltiger bestückt. Hier empfehlen sich “Darc Academia”-Romane wie “Die geheime Geschichte” oder “If We Were Villains”, wo im einen Fall die griechische Mythologie und im anderen William Shakespeares Bühnenstücke mörderisches Unheil an zwei elitären Universitäten in Gang setzen. Krimi, Klassiker und niveauvolles Entsetzen gehen hier Hand in Hand.
Oder wie wäre es mit einem lateinamerikanischen Schauerroman? In “Mexican Gothic” bahnen sich auf einem abgelegenen, herrschaftlichen Anwesen im Besitz eines charismatischen Aristokraten verborgene Geheimnisse den Weg ans Licht. Mexikanisches Flair mit schwülen Nächten und heißen Figuren ist dabei kein bisschen weniger finster als unterkühlter englischer Viktorianismus.
Oder vielleicht lieber Vampire? Jay Kristoff gibt uns mit Gabriel de Lion - Bastard eines Blutsaugers - einen Vampirjäger von der besonders faszinierenden Sorte. In “Empire of the Vampire” geht es blutig und grausam zu, aber der ungemein stimmungsvolle Roman erinnert mit seiner Melancholie und seinem tätowierten Anti-Helden an den grausamen, aber berührenden Genre-Klassiker “Interview with the Vampire” von Anne Rice. Monster mit Gefühl eben.
Genug Stoff für herrlich schauderhafte Herbstabende? Wir können natürlich nicht garantieren, dass es auch bei diesen Wohlfühl-Horror-Hörbüchern nicht zu Einschlafproblemen oder aufgestellten Nackenhaaren kommt. Jeder hat eine andere Gruselgrenze. Aber all diese Geschichten sind mehr als Blut, Gewalt oder Monster: alle glänzen mit reichhaltiger Atmosphäre zum Eintauchen und einer guten Story hinter dem Schrecken. Ob subtil oder trashig, ob fantastisch oder romantisch, ob humorvoll oder mit Tiefgang: Mit diesen Grusel-Hörbüchern wird die finstere Jahreszeit zu einem unheimlichen Genuss!