Eine Smart City ist eine Stadt, die dicht mit Sensoren bestückt ist, welche ständig Informationen senden. So entsteht eine permanente Interaktion zwischen Stadtbewohnern und der sie umgebenden Technologie. Ist das auch Ihre Definition einer Smart City?

So propagieren das die Technologieanbieter vehement. Die Infrastrukturbetreiber haben ein großes Interesse daran, Sensorentechnik, Bilderkennung und Kamerasysteme bereitzustellen – unter Umständen auch umsonst. Diese produzieren dann massenhaft Daten, die wiederum nur von eben diesen Infrastrukturanbietern transportiert und kommuniziert werden können. Das Thema wird also stark von den Technologieanbietern getrieben.

Was ist für Sie eine Smart City?

Ich würde sagen, dass eine Smart City von Smart Citizens ausgehen sollte. Diese Bürger müssen erstmal die richtigen Fragen stellen. Etwa: Wie können wir in Städten besser, nachhaltiger, sicherer leben? Auf solche Fragen wissen smarte Technologien keine Antworten. Und erst recht nicht auf Ereignisse wie die Flüchtlingskrise oder Social Distancing und Vereinsamung.

Welche Probleme kann smarte Technologie denn heute schon lösen?

Die Stadt Hamburg kann derzeit zu wenig Kindergärten bereitstellen. Am CityScienceLab der Hafencity Universität können wir über Luftbilder, Geoinformationssysteme und Routenplanung ausrechnen, wo der Bedarf am höchsten ist. Und das nicht nur auf Basis der bestehenden Daten, sondern prädiktiv. Natürlich hält die Zukunft immer Überraschungen bereit. Wir versuchen, auch solche Störungen in unsere Szenarien einzubauen. Diese Modelle werden besser, je mehr verschiedene Datenquellen man miteinander verheiraten kann - etwa Mobilitätsdaten mit Sozialdaten. So kann man sehr gute Antworten auf komplexe Fragen finden.

Smart Cities

An der TU Dresden sammeln Sie Meinungen von Bürgern zu Bauprojekten ein und werten diese aus. Dieser demokratische Ansatz klingt erstmal super – aber ist das Thema Stadtentwicklung nicht viel zu komplex, um es Laien zu überlassen?

Richtig. Das können wir schon deswegen nicht machen, weil dadurch Verantwortlichkeiten diffundieren. Der Experte ist verantwortlich dafür, dass seine Planung Hand und Fuß hat. Das lässt sich schlecht delegieren. Bei Projekten wie U_CODE an der TU Dresden geht es darum, Planungsdesaster zu vermeiden. Aktuell läuft es meist so: Top-down wird ein Riesenprojekt in die Welt gesetzt, das Milliarden kostet, aber am Ende nicht funktioniert. Die Verluste werden dann vergesellschaftet. Wir kennen eine ganze Handvoll an Milliardengräbern vom Berliner Flughafen über den Cargolifter und den Lausitz-Ring bis Stuttgart 21, die planungskonform in Gang gesetzt wurden, bei denen aber die sozialen Belange nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Damit solche Desaster nicht wiederholt werden, ist es wichtig, die Bevölkerung künftig stärker zu involvieren. Bürger sollen beitragen, kritisieren und selbst kreative Ideen einbringen.

Können Sie ein Beispiel geben, wie das konkret aussieht?

In Dresden wird ein großer Platz neugestaltet. Hier haben wir 15.000 Beiträge eingesammelt, und mit unseren Tools analysiert. So sind wir auf Ideen gestoßen, auf die kein Stadtplaner gekommen wäre. Das ist ein Beispiel für Crowd Creativity. Diese kollektive Intelligenz und Kreativität der Bevölkerung können wir mit unseren Tools einsammeln und auswerten.

Stadtplaner träumen von vernetzten, hypermodernen Städten – Städter dagegen eher vom Häuschen im Grünen. Der Trend geht zu DIY, zum Gärtnern, sogar Hühnerhaltung ist in. Wollen die Leute überhaupt in Smart Citys leben?

Märkte erzeugen Bedürfnisse für bestimmte Produkte. Kein Mensch hat Instagram gebraucht, aber jetzt ist es da und wird massiv genutzt. Das wird auch mit Smart-City-Technologien der Fall sein. Was technisch möglich ist, wird gemacht. Und der Bedarf dafür wird dann auch gemacht. In China oder Korea kann man sich angucken, wie schnell neue Technologien zum Standard werden. Im Westen spielen Selbstbestimmung und Individualismus allerdings eine große Rolle, was Kritik an Regel- und Steuerungsmechanismen einschließt. Es wird also positiv-kritische Gegenbewegungen geben.

Die Stadt aus Licht

Und im Rest der Welt?

Dort existiert ein Bedarf nach Stadt. In Indien hat die Urbanisierung noch gar nicht angefangen, dort leben noch 60 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Hier entstehen Slums – woanders würde man informelle Städte sagen – in denen irrsinnige Menschenmengen zusammenleben. Diese Megacitys mit einer Dichte ähnlich wie Hong Kong brauchen Steuerungs- und Regelungsmechanismen, die die Menschen ganz absichtsvoll in ihrem Verhalten beeinflussen. Dafür hat die Bevölkerung durchaus Verständnis. In Asien haben die Menschen aber auch andere Wertesysteme, dort zählt das Individuum viel weniger.

Wo werden Städter aktuell schon durch Algorithmen gesteuert?

In Singapur wird die Bewegung der Bürger sehr intensiv gesteuert. Das geschieht über Smartphone-Tracking. In China kommt man mit einem negativem sozialen Punktekonto nicht mehr in öffentliche Verkehrsmittel. Ohnehin kommt man ohne Smartphone in China nicht vom Fleck. Man bekommt kein Taxi und kein Bahnticket, ohne eine digitale Krümelspur zu hinterlassen. Das sind extreme Steuerungsmechanismen. Eine mildere Möglichkeit ist Pricing: zur Rush-Hour kostet das Ticket das Doppelte. Oder ein Bus taucht auf Ihrem Fahrplan nicht auf, obwohl er fährt.

Sie haben viel Zeit in asiatischen Metropolen verbracht, vor allem in Tokio. Was können Architekten in Deutschland von diesen Städten lernen?

Bescheidenheit. Weniger ist oft mehr – und manchmal ist es am besten, nichts zu bauen. Architekten wollen immer bauen, selbst, wenn es gar keinen Anlass gibt. Weniger Gebäude, als Option überhaupt in Betracht zu ziehen – das ist für Architekten schwierig, denn damit machen sie sich ja selbst überflüssig. Aber die Städte sind zu Ende geplant. Die Ressource Raum ist knapp geworden, die Ressource Umwelt auch und jetzt verbrauchen wir die Ressource Zeit und leben auf Pump in die Zukunft. Eine Smart City ist eine, die auch weiß, wann Planung und Technik vermieden werden kann.

Sie sehen Ihre eigene Zunft eher kritisch.

Es wird zu viel improvisiert und ausprobiert. Es gibt ein wildes digitales Herumfummeln am lebendigen Leib der Stadt. Man kann sich die Stadt vorstellen wie einen Patienten auf dem OP-Tisch. Die Chirurgen leiten hier ein paar Arterien um und schließen da ein paar Nervenbahnen kurz. Da werden große Systeme und Infrastrukturen aufgebaut, ohne dass jemand weiß, welche Konsequenzen das hat.

Können Sie ein Beispiel für ein solches digitales Großprojekt nennen?

Es gibt Pläne, große Übersee-Häfen eng mit Funk-Sensoren zu bestücken. So bekommt man ein perfektes Echtzeit-Bild dieser Häfen. Aber was bedeutet das, wenn jedes Objekt um uns herum anfängt, uns zu beobachten und zu registrieren? Was ist mit dem Elektrosmog, den all diese Sender produzieren? Wir wissen einfach noch nicht, was die Auswirkungen sein werden. Vielleicht produzieren wir hunderttausende Einfallstellen für Cyberterrorismus.

Welche Technologien werden in Hamburg in nächster Zukunft umgesetzt werden?

Wir fangen derzeit an, den Drohnenflugverkehr in der Stadt zu konzipieren. Wir legen Flugstraßen über der Stadt fest, auf denen in einem halben Jahr Drohnen herumsegeln werden, um Medikamente von einem Krankenhaus zum anderen zu transportieren. Damit öffnen wir allerdings ein Tor für eine sich schnell fortsetzende urbane Mobilität, deren soziologischen, ökologischen und stadtgestalterischen Auswirkungen wir nicht kennen.

Was wird in 15 oder 20 Jahren in Hamburg Realität sein?

Das autonome Fahren wird kommen. Algorithmen werden entscheiden, welchen Weg ich nehme. Da ist Hamburg sehr weit voran. Wir werden Hamburg weiter sehr gezielt nachverdichten. Gleichzeitig wird die Stadt diversifizierter werden. Denn um eine solche Dichte zu bewerkstelligen, müssen die Angebote vor Ort sein. Zum Einkaufen, für die Schule oder den Sport bleibt man in seinem Quartier, um keinen weiteren Verkehr zu produzieren. Diese Viertel – vielleicht sogar Gebäude – werden erstaunlich autonom funktionieren. In China kann man das schon beobachten, da verbringen Menschen ihr gesamtes tägliches Leben in einem Hochhaus.

Also das genaue Gegenteil von dem, was die Modernisten sich einmal vorgestellt hat.

Die Modernisten waren besoffen von Mobilität. Die sektorale Stadt ist ein Mobilitätsverstärker. Ein halbes Jahrhundert später wusste man, dass das keine so gute Idee war.

The Death and Life of Great American Cities

Wir haben über die größte Krise, die uns in Haus steht, noch nicht gesprochen: den Klimawandel. Wer wird noch über Sensoren nachdenken, wenn der Meeresspiegel steigt? Oder kann Technik hier etwas bewirken?

Smarte Technik könnte helfen, einen lokalen Starkregenfall oder eine Schlammlawine schneller zu bemerken. Ein Beispiel: Die Autos haben Regensensoren an ihren Scheinwerfern. Die Autohersteller lassen uns an diese Daten aktuell nicht ran, aber man könnte damit sehr präzise Wetterkarten erstellen. Für Einsatzkräfte wäre das relevant.

Lange wurde immer größer und bombastischer gebaut, seit Jan Gehl besinnt sich die Architektur wieder auf den „human scale“. Welche Rolle spielt Technik hierbei?

Für mich spielt der Begriff „human scale“ eher auf digitaler Ebene eine Rolle. Für unsere Beteiligungskampagnen analysieren wir etwa Kommentare in sozialen Netzwerken, um herauszufinden, welche Gefühle in der Bevölkerung zu bestimmten Bauprojekten vorherrschen – Zustimmung, Ablehnung oder Widerstand. Das nennt sich Sentiment analysis. Allerdings hat Cambridge Analytica solche Verfahren für politische Kampagnen missbraucht.

Wie bringen Sie diesen menschlichen Faktor in die Stadtplanung ein?

Wir versuchen heute, die physische Stadt virtuell nachzubauen. Das kommt aus dem Fahrzeug- und Flugzeugbau, wo man seit 20 Jahren zum Beispiel Designexperimente erstmal virtuell macht. Seit weniger als fünf Jahren versucht man auf Stadtebene, in einem digitalen Stadtmodell Bauvorhaben zu simulieren – einfach, um die Fehlversuche nicht am lebendigen Leib der existierenden Stadt zu machen. Diesen digitalen Zwilling einer Stadt können wir auf der technischen Ebene schon sehr weit beschreiben. Was dort noch fehlt, ist der menschliche Faktor: Was machen die Leute in dieser Stadt? Wo trifft man sich? Welche Emotionen haben Individuen oder Gruppen an urbanen Orten, in Gebäuden? Das müssen wir unbedingt in diese Konstrukte einbringen. Sonst werden uns diese hocheffizienten und gewinnträchtigen Technologien Lösungen anbieten, in denen der Mensch gar nicht berücksichtigt wird.