Falsch. Ganz falsch.
“Erhebung” ist genau das Gegenteil von Horror. Es ist - jetzt haltet euch fest - eine warmherzige, freundliche und liebevolle Novelle; ein Aufruf zu Toleranz, Miteinander und Diversität. Es ist vielleicht die mildeste und positivste Geschichte, die Stephen King jemals geschrieben hat. Und wenn man am Ende die Tränen nicht verdrücken kann, dann hat das nichts mit Angst und Schrecken zu tun, sondern mit einer ergreifenden Mischung aus Traurigkeit und Glück.
Scott nimmt rasend schnell ab. Sein Körperumfang ändert sich trotzdem nicht. Und noch unheimlicher: Wenn er auf die Waage steigt, zeigt sie das gleiche Gewicht an, egal wie viel er trägt, ob Kleidung oder gar Hanteln. In seiner netten Wohngegend in der Kleinstadt Castle Rock gerät er zudem in einen eskalierenden Kleinkrieg. Es entstehen merkwürdige Allianzen, doch der jährliche Stadtlauf und Scotts mysteriöses Leiden fördern bei sich und anderen eine Menschlichkeit zutage, die zuvor unter herzloser Bequemlichkeit vergraben lag.
Mit David Nathan haben Kings Meisterwerke ihren kongenialen Interpreten gefunden.
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Dabei hört sich das zu Beginn doch nach vertrautem King-Grusel an: Scott Carey, der geschieden und mit einer Katze in Castle Rock lebt, nimmt aus unerklärlichen Gründen immer mehr ab. Man sieht es ihm allerdings nicht an, und merkwürdigerweise wiegt er mit und ohne Kleidung dasselbe; selbst Steine in der Tasche ändern das nicht. Der befreundete, pensionierte Hausarzt findet auch keine Erklärung.
Die Ausgangssituation erinnert an Stephen King’s Gruselroman “Der Fluch” von 1984. Auch hier schwand ein immer dünner werdender, von einem Zigeuner verfluchter Protagonist dahin, und die Sache nahm ein böses Ende. Da ging es um Hass, um Schuld, um Rache. Und genau hier trennen sich die Wege zu “Erhebung”.
Scott Carey ist keiner, dem irgendjemand etwas Böses an den Hals wünschen würde. Er ist ein freundlicher, ganz normaler, vielleicht ein bisschen einsamer Kerl, der keinerlei Schuld auf sich geladen hat. Im Gegenteil: Er ist derjenige, der versucht, mit dem im Ort verschrieenen lesbischen Pärchen, das nebenan wohnt, Kontakt zu knüpfen, obwohl deren Hunde immer auf seinen Rasen machen. Vor allem die kratzbürstige Deirdre macht es ihm dabei wahrlich nicht einfach. Das neu eröffnete Restaurant von Deirdre und ihrer Frau Missy wird von den Einwohnern regelrecht boykottiert, und Scott macht es zu seinem - vielleicht letzten - Projekt, das zu ändern.
Das hört sich beschaulich an, und das ist und bleibt es auch. King bleibt im Kleinstadtkosmos, versieht ihn ganz nebenbei mit konservativ-republikanischer Denke und Homophobie. Ein kleiner Seitenhieb auf das trump’sche Amerika dieser Tage?
Die Sache mit dem zunehmenden Gewichtsverlust von Scott ist unterschwellig beunruhigend, aber nie entsetzlich. Man fragt sich nur einfach besorgt, wie das enden soll. Und King nimmt diese Frage nach dem Ende - nach dem Tod - und präsentiert uns seine eigene Wunschvorstellung von Selbstbestimmung. Seine Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ zieht sich durch sein gesamtes Werk und bekommt mit zunehmendem Alter neue Nuancen.
Aber King dreht sogar das übernatürliche Phänomen des immer weniger werdenden Scott ins Positive und macht daraus eine Metapher: Scott, federleicht und immer weniger von der Schwerkraft beeinflusst, erhebt sich über die Dinge: über Vorurteile, über Feindseligkeit, über den kleinlichen Blick auf die Dinge. Was er gewinnt, sind Zuneigung, Freundschaft und die Sicht auf das große Ganze.
Am Ende verabschiedet sich “Erhebung” mit einer Szene, die dicht am Kitsch vorbeischrammt. Aber King schreibt nicht erst seit gestern, und so behält er die Sache im Griff und trifft stattdessen mitten ins Herz. Auch David Nathan meistert den Drahtseilakt und sorgt sanft und warm für eine ganz neue Art von King’scher Gänsehaut.