So beginnt Ausgabe 1 von Neil Gaimans bahnbrechender Comic-Serie für Erwachsene, The Sandman. Neil Gaiman, Jahrgang 1960, ist - für die, die es noch nicht wissen - ein englischer Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Gedichten, Comics, Graphic Novels und sogar Kinderbüchern, der außerdem inzwischen fleißig Verfilmungen seiner Werke produziert. Was er schreibt, entzieht sich der eindeutigen Zuteilung zu einem Genre, landet in Ermanglung besserer Ideen aber meist im Fantasy-Regal der Buchhandlungen. Seine Geschichten sind skurril, düster, originell, von feinem Humor und meist von Gänsehaut überzogen. Die Charaktere, die er erschafft, werden regelmäßig zu Kult.

Gaiman ist vielseitig: Er schreibt und zeichnet, und er ist ein begnadeter Redner. Die englischen Hörbuch-Versionen seiner Bücher spricht er häufig selbst ein und bezaubert damit seine Hörer. Wenn man ihn lässt, geht er gerne auf Lesereisen, plaudert charmant vor begeistertem Publikum, sucht dabei gerne den Kontakt mit seinen Fans und ist dafür bekannt, danach bis spät in die Nacht unermüdlich Bücher zu signieren, bis ihm fast die Hand abfällt.

Zu Gaimans bekanntesten Romanen zählen unter vielen anderen American Gods (Staffel 3 der zugehörigen Amazon-Serie startete am 11. Januar!), Der Ozean am Ende der Straße und Good Omens, gemeinsam mit seinem Freund Terry Pratchett verfasst und seit 2019 eine global erfolgreiche Mini-Serie - und eben The Sandman.

The Sandman

The Sandman vereint Horror und Fantasy mit Elementen der Mythologie, Literatur, Historie und Comic-Kultur. Als grober roter Faden ziehen sich die Erlebnisse von Morpheus durch die Reihe, aber jede Ausgabe ist ein wilder Ritt durch die Imagination von Neil Gaiman - von einer Serienkiller-Konferenz, der Nacherzählung einer nordischen Sage über eine mörderische Nacht in einem Diner bis hin zu einer neuen Version von Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Mit anderen Worten: Schlägt man eine Sandman-Geschichte auf, kann einen alles erwarten!

Wer Comics dabei mit Unterhaltung für Kinder gleichsetzt, der sei gewarnt: The Sandman (die Comics sind erhältlich im Panini-Shop) ist teils von blutiger, grotesker Gewalt, und Sexualität wird ebenfalls explizit thematisiert. Grausiger Höhepunkt ist Ausgabe Nr. 6, "24 Stunden", in der die Besucher eines Restaurants durch Gehirnwäsche zu Gräueltaten und Mord getrieben werden. Vor dieser Geschichte erschrickt Neil Gaiman heute nach eigener Aussage selbst ein bisschen. Die Themen sind insgesamt komplex und ausschließlich für Erwachsene bestimmt. Diese Reihe ist grandios, gehört aber keinesfalls in Kinderhände!

Als das erste Heft von The Sandman 1989 bei DC Comics erschien, ahnten weder der Verleger noch der Autor, welche Erfolgsstory sie auf den Weg geschickt hatten, und wie sehr die Reihe die Welt der Comics und Graphic Novels verändern würde. Bis zum Jahr 1996 erschienen 75 Einzelhefte, die später in zwölf Kollektionen als Graphic Novels zusammengefasst wurden und insgesamt mehr als 2.000 Seiten umfassen. Dazu kamen 2013 noch ein Prequel, Spin-Offs, unzählige Sammler- und Jubiläumsausgaben und Box Sets. Als bisher einziger Comic überhaupt gewann Ausgabe 19, "Ein Sommernachtstraum", 1991 den World Fantasy Award. 2020 folgte die Adaption in ein englisches Audible-Hörspiel, jetzt kommt die deutsche Version, und Netflix ist derzeit mit einer Umsetzung in eine Streaming-Serie beschäftigt.

Dabei begann The Sandman eigentlich als Vehikel für ein anderes Produkt. Neil Gaiman, damals Ende zwanzig und noch sehr weit entfernt von seinem heutigen Berühmtheitsgrad, arbeitete an einem anderen Comic, Black Orchid. Um Gaiman vor der Veröffentlichung ein bisschen bekannter zu machen, gab DC ihm eine Aufgabe: Er sollte eine alte DC-Figur für eine monatliche Reihe wiederbeleben. Die Wahl fiel auf The Sandman, von dem es bereits 1939 und später in den 70ern und 80ern Versionen gab. Wie die neu aufgelegte Figur aussehen und was sie erleben würde, blieb völlig dem Autor und seinen Zeichnern überlassen. Mit einer derartigen Narrenfreiheit ausgestattet, stimmte Gaiman zu und machte sich zusammen mit den Illustratoren Sam Kieth und Mike Dringenberg an die Arbeit.

Die drei reichten Zeichnungen hin und her und tauschten Ideen aus, bis sie ihren Sandman für die 90er hatten: Statt der uralten Figur mit Trenchcoat, Gasmake und Gaspistole ist der neue ein bleiches, schmales, hochwüchsiges Wesen mit unordentlichen schwarzen Haaren und ebenso schwarzen Augen, in deren Abgründen Sterne blitzen; seine Werkzeuge sind ein Rubin, ein Säckchen voll Sand und ein rüsselbewehrter Helm, der an eine Kreuzung aus Insekt und furchterregendes Alien erinnert.

Eine Story-Idee, die ihm möglichst viel Spielraum lassen würde, fiel Gaiman auch schnell ein: Was geschieht mit der Welt - der Traumwelt als auch der wahren - wenn Morpheus, Herr über und Verkörperung aller Träume - in Gefangenschaft gerät und seinen Job nicht mehr ausrichten kann? Welches Chaos findet er vor, als er sich befreit und zurückkehrt?

"Der Herrscher über die Träume lernt, dass man sich verändern oder sterben muss, und er trifft seine Entscheidung."

Neil Gaimans Zusammenfassung von "The Sandman"

Gaiman nutzte diese Ausgangssituation, um über alles zu schreiben, was ihn interessierte und ihm wichtig war. Schon immer ein Fan von griechischer, nordischer und sonstiger Mythologie, baute er beides in The Sandman ein. Auch Gaimans Begeisterung für William Shakespeare sorgte dafür, dass nicht nur Figuren aus dessen Stücken sondern auch der Barde selbst durch diesen Comic streifen. Charaktere aus diversen Religionen stiften ebenfalls reichlich Verwirrung und Unheil - allen voran der Teufel persönlich, der in einer denkwürdigen Ausgabe die Hölle leert und alle Insassen auf die Erde zurückschickt. Nicht gut.

Weitere Autoren, fiktionale Figuren anderer Schöpfer, Helden aus bekannten DC-Comics, aber auch historische Figuren bevölkern das Universum von The Sandman. Und natürlich die unvergesslichen, von Gaiman und seinen Illustratoren geschaffenen Hauptfiguren rund um Morpheus. Er ist der rote (oder vielmehr schwarze Faden), der sich durch alle Hefte zieht - er und seine sechs Geschwister, genannt “die Endlosen”. Die Namen dieser Unsterblichen lauten: Destiny (Schicksal), Destruction (Zerstörung), Desire (Verlangen), Despair (Verzweiflung), Delirim (Wahn) und Death (Tod). Besonders letzterer sorgt beim ersten Auftritt für eine faustdicke Überraschung, denn statt eines knöchrigen Sensenmanns stellt sich der Tod als kecke junge Frau mit schwarzem Wuschelkopf, Spaghetti-Top und pragmatischem Humor heraus, die ihren zur Melancholie neigenden Bruder ab und an in den Hintern tritt.

The Sandman: Akt II

Auch das war neu an The Sandman: Wurde die Comic-Welt zuvor fast ausschließlich von nicht unterzukriegenden Superhelden dominiert, die gegen das Böse siegten, zeigten sich Gaimans “Endlose” als komplexer, zwiespältiger, verwundbarer - und als fehlbar. Als Bogen über eine wilde Schar unterschiedlichster Geschichten spannt sich die Geschichte ihrer Figuren. Gaiman untersucht deren Innenleben. Was sind ihre Geschichten? Wie entwickeln sie sich? Und die Traumwelt ist als grenzenloses Spielfeld am besten für diese Erforschung geeignet. Vor allem für einen wie Gaiman, der schon immer wunderbar fabulieren konnte.

Für Comic-Nerds ist The Sandman ein Fest der “Easter Eggs” und eine aufregende Neuinterpretation des Genres. Doch Gaiman schaffte noch etwas anderes mit seinem illustren Cast und den komplexen Themen: Er machte Comics zum Lesestoff für Intellektuelle! Von den ganzen Verweisen auf Literatur und Mythologie mal abgesehen, steckte Gaiman Philosophie und Gesellschaftskritik in sein Universum. Er legte ganze Ausgaben in die Hände starker Frauenfiguren und gab - seiner Zeit voraus - auch LGBTQ+ Charakteren darin ihren gleichberechtigten Platz. Er bürstete Klischees gegen den Strich und forderte seine Leserinnen und Leser zum Nachdenken heraus. Und die Sprechblasen der Figuren sind gefüllt mit Sätzen, die es als prägnante, oft poetische Zitate zu geflügelten Worten gebracht haben.

Das schlug sich auch in der Leserschaft nieder: Wurden Comics klassischerweise von jungen Männern gelesen, erschienen in den Comic-Läden auf einmal Frauen und andere Altersgruppen, um Sandman-Ausgaben zu kaufen. Zu den Nerds gesellten sich die “ganz normalen” Leser. Die Zusammenfassung der Hefte zu zwölf Graphic Novels gab einen weiteren Schub nach vorn in Richtung ernst genommener Literatur und heraus aus der trivialen Unterhaltungsecke. Neil Gaimans The Sandman, so zeigt sich rückblickend, definierte das ganze Genre neu.

"Wenn du Comics machst, dann tust du das aus Liebe."

Neil Gaiman

Kommerziell schlug sich der Erfolg nicht sofort nieder. Die ersten Ausgaben verkauften sich anständig, aber nicht auffallend gut. Mit Comics, so sagte man damals, ließ sich sowieso kein großes Geld verdienen. “Wenn du Comics machst, dann tust du das aus Liebe,” brachte Gaiman es in einem Interview mal auf den Punkt. Doch mit jedem Heft kamen neue Leserinnen und Leser dazu. Stetig und mit zunehmendem Tempo stiegen die Absatzzahlen und explodierten mit Erscheinen der Kollektionen geradezu. 2013 erschien mit Overture noch ein Prequel, das denn Kult weiter anfachte. Mittlerweile haben Millionen von Menschen die Sandman-Comics gelesen - und kaufen sie als Sonderausgaben oft sogar noch ein zweites Mal.

In Deutschland war der Erfolg zunächst nicht so groß - was auch daran lag, dass die übersetzten Comics nicht in chronologischer Reihenfolge und, mit Unterbrechungen, in drei verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurden. Aber auch hierzulande griff eine wachsende Zahl von Fans einfach zu den englischen Originalen, so dass der Sandman auch in Deutschland schon lange Kult-Status genießt.

Es war dennoch ein gewagtes Unternehmen, als in diesem Jahr Audible eine Hörspiel-Umsetzung auf den Markt brachte, adaptiert vom mehrfach ausgezeichneten Regisseur und Autor Dirk Maggs, mit Neil Gaiman als Co-Produzent. Gaiman war schon lange an einer solchen Adaption interessiert, hatte von der BBC aber bereits vor Jahren eine Abfuhr bekommen. Der Sprung vom Comic in ein ganz anderes Format brachte eine enorme Fallhöhe mit sich. Der Mut sollte sich lohnen: Das englische Hörspiel, das die Sammelbände eins bis drei von The Sandman umfasst, setzte sich blitzschnell an die Spitze der New York Times Bestseller-Liste und ist in England das bisher meistverkaufte Hörspiel von Audible überhaupt. Eine deutsche Version - Traum vieler deutscher Sandman-Fans - wurde in Folge Wirklichkeit. Inzwischen ist mit Akt III bereits der dritte Teil erschienen, und das Hörspiel wurde in weitere Sprachen übersetzt. Auch auf die Bildschirme hat "The Sandman" es geschafft: Staffel 1 war auf Netflix wochenlang Spitzenreiter. Und der Traum

Foto: TM & @ DC