Meine Mutter ist eine begeisterte und ausgesprochen ausdauernde Vorleserin. In den allabendlichen Vorlesestunden meiner Kindheit hat sie sich durch das lindgrensche Gesamtwerk geackert, sämtliche Kinderbücher von Michael Ende vorgelesen, dazu nahezu alles von Christine Nöstlinger, Erich Kästner, James Krüss und, und, und. Ich bin sicher, sie hätte sich auch mit Feuereifer auf Harry Potter gestürzt – nur gab es den in den 80ern leider noch nicht.

Inwieweit das zu meiner späteren Lesebegeisterung beigetragen hat? Ich weiß es nicht. Fakt ist, dass ich als Teenager die Bücher mit dem Hackenporsche aus der Stadtbibliothek nach Hause gekarrt habe. Ich brauchte einfach mehr Stoff, als ich tragen konnte. Gut, ich gebe zu: Unser altersschwacher Schwarz-Weiß-Fernseher war keine ernstzunehmende Alternative. Die Stiftung Lesen wäre mit unserer Familie jedenfalls recht zufrieden gewesen.

Mit meinen eigenen Kindern mache ich es anders. Obwohl es weder an Büchern noch an Nachfrage meiner Kinder mangelt. Ich habe am Abend schlicht keine Lust mehr, nach dem zeit- und nervenraubenden Aufräum-Schlafanzug-Zähneputzen-Klo-Theater noch die Abenteuer der Paw Patrol oder von Bibi Blocksberg vorzutragen. Also schalte ich jedem Kind sein aktuelles Lieblingshörbuch an – und klappe auf dem Sofa zusammen. Die Stiftung Lesen würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. (Zu meiner Ehrenrettung: Am Wochenende holen wir einiges nach. Nachmittags, wenn die Nerven noch halbwegs intakt sind. „Die Schule der magischen Tiere“ und „Ponyhof Apfelblüte“ sind bei meiner Sechsjährigen gerade schwer angesagt.)

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Mit meiner Vorlese-Unlust bin ich typischer Fall. Die Stiftung Lesen hat’s schwarz auf weiß, nachzulesen in der „Vorlesestudie 2020“: 69 Prozent aller Eltern, die ihren Kindern „selten oder nie“ vorlesen, nennen mindestens einen der folgenden Gründe: keine Zeit, keine Energie, zu viel anderes zu tun.

Erziehe ich meine Kinder damit zu Lesemuffeln und Schulversagern? Pädagogen werden ja nicht müde, zu betonen, wie eng Lesekompetenz und gute Noten zusammenhängen. Ich will es nicht hoffen. Leider kann ich es auch nicht ausschließen: Es gibt schlicht keine Studie, die Auskunft darüber geben könnte. Fördern Hörbücher die Lesekompetenz – immerhin liest ja jemand vor, nur halt nicht live? Oder behindern sie sie gar? (Warum noch selbst lesen, wenn es doch genügend Hörbücher und -spiele gibt, um sich durch sämtliche verregnete Nachmittage einer Kindheit zu hören?)

Die Stiftung Lesen hat dazu auch keine Daten, aber eine Meinung: „Beim Vorlesen spielt der soziale Aspekt eine große Rolle“, findet Franziska Hedrich von der Presseabteilung der Stiftung. „Beim Hörbuch hören kommt man nicht miteinander ins Gespräch, es fehlt die Verbindung von Ton, Text und Bild. Vorlesen ist kommunikativer. Aber natürlich ist Hörbuch hören besser, als gar nicht vorgelesen zu bekommen.“

Pilotstudien lassen immerhin den Schluss zu, dass Hörbücher die Lesekompetenz von Schülern erheblich verbessern können – und zwar dann, wenn beides gleichzeitig geschieht. Das zeigt die Methode „Lesen durch Hören“, die Steffen Gailberger an der Leuphana Universität Lüneburg entwickelt und an mehreren Hauptschulen getestet hat. Dabei lasen die Schüler, während sie das Gelesene zeitgleich hörten – woraufhin nicht nur die Lesefähigkeit, sondern auch die Lesemotivation stieg.

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Ich selbst habe zu dem Thema natürlich auch eine Meinung. Ich glaube, dass noch kein Kind zum begeisterten Leser mutiert ist, weil es so unbedingt seine Schulnoten verbessern wollte. Das hätten Lehrer und Eltern gerne. Aber so läuft das nicht. Leser lieben ja nicht das Lesen an sich – sie lieben Geschichten. Irgendwann kommt der Punkt, wo ein Kind ungeduldig das Vorlesebuch aufschlägt. Einfach, weil es nicht mehr darauf warten kann, dass ein Erwachsener sich Zeit zum Vorlesen nimmt. Die Geschichte muss weitergehen, jetzt, sofort. Selbst, wenn man sich dafür mühsam allein durch den Text kämpfen muss.

Die Voraussetzung dafür ist, dass Kinder die Magie von Geschichten für sich entdecken. Dafür wiederum scheinen wir Menschen von Natur aus empfänglich zu sein. Ob diese Geschichten am Kaminfeuer erzählt, aus einem Buch vorgelesen oder auf dem Handy angehört werden – ist das nicht völlig nebensächlich? Natürlich gibt es eine Konkurrenz zwischen den Medien und eine ewige Debatte darum, welcher Kanal nun „besser“ sei. Ein Ergebnis hat sie bisher nicht gebracht. Und wen interessiert diese Frage eigentlich? Kinder sicher nicht.

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Ich finde es falsch, Kinder zum Lesen zu nötigen. Bücher haben es einfach nicht verdient, dass man sie wie lappige Brötchen anpreisen muss. Kinder haben es nicht verdient, dass man ihnen etwas aufdrängt, das sie vielleicht gerne aus eigener Motivation heraus entdecken möchten. Erschöpfte Eltern dagegen haben es sehr wohl verdient, auf dem Sofa zusammenzuklappen. „Das Verb „lesen“ duldet keinen Imperativ“, hat der französische Autor Daniel Pennac bereits vor einem Vierteljahrhundert in seinem Essay „Wie ein Roman“ festgestellt. Und weiter:

"Vorlesen soll ein Geschenk sein, für das man nicht die geringste Gegenleistung verlangen darf."

Daniel Pennac

Schenken aber soll man von Herzen. Mein Standpunkt zu dem Thema lautet darum: Wer nicht vorlesen mag, soll es getrost jemand anderem überlassen. Jemandem, der es gerne macht. Der das Vorlesen liebt, der aus einem gedruckten Text ein Spektakel, ein Abenteuer, einen Genuss machen kann. Einem Sprecher eben. Nicht jede Mutter, nicht jeder Vater ist zum Performer geboren – und ein bisschen Performance gehört beim Vorlesen einfach dazu. „Vorlesen macht mir nicht so viel Spaß“, gab jeder zweite Erwachsene aus der Gruppe der Vorlesemuffel zu, „Ich mag dieses Schauspielern nicht, ich will mich nicht verstellen“. Auch wenn es mir anders geht, kann ich diesen Standpunkt doch gut nachvollziehen.

Und was sagen die Experten dazu? Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie meint: „Hörbücher (sind) meiner Meinung nach eine ganz tolle Möglichkeit, Kinder auf Fähigkeiten vorzubereiten, die sie später beim Lesen brauchen: Sie hören nur einen Text, ohne Bilder zu sehen. Die Bilder, Gefühle, Gedanken, kurz: die ganze Welt der Geschichte muss, anders als beim Film oder im Fernsehen, ganz allein auf der Grundlage von Sprache im Kopf des Kindes selbst entstehen.“ Der Über-Pädagoge Jesper Juul glaubte, Hörbücher und Hörspiele „regen das Gehirn dazu an, eigene Bilder zu schaffen, während der Geist darüber nachdenkt." Und auch Ex-Super-Nanny Katharina Saalfrank hat kein Problem mit dem Medium: „Auf diese Weise erschaffen sich Kinder beim Hören ihre ganz eigene innere Hörwelt und tauchen dabei in eine selbst geschaffene Fantasiewelt ein.“

Mit dem Segen der Pädagogik dürfen sich meine Kinder also weiterhin bis zum Abwinken ihre geliebten Hörspiel-Serien reinziehen. Seit neuestem bekommen sie aber auch wieder täglich live vorgelesen: Im Lockdown hat meine Mutter Videokonferenzen als Bühne für ihre Vorlesekunst entdeckt. Der Vorteil daran? Während sie liest, können die Kinder auf dem Sofa hüpfen, ohne Oma damit auf die Nerven zu gehen. (Bewegung ist ja auch sehr wichtig.) Eine Win-win-win-Situation für alle drei Generationen also. Mit „Liliane Susewind“ und „Hummelbi“ sind sie schon durch.