Hörbücher können vieles sein: intim, erleuchtend, herzzerbrechend, lebensverändernd. Aber können sie auch "rocken"? Wenn mich jemand davon überzeugen kann, dass die Antwort auf diese Frage ein lautstarkes „Auf jeden Fall!“ ist, dann ist es die US-amerikanische Band Weezer. Deren Alben habe ich damals in den 90ern im texanischen Austin bei „Tower Records“ (einem alten Plattenladen, den es heute nicht mehr gibt) aufgestöbert. Weezers einzigartiger und sich ständig weiterentwickelnde Sound findet selbst Jahrzehnte später noch neue Fans – wie meine Kinder wissen.

Aber während diese Fans geduldig auf das vorher angekündigte Album Van Weezer gewartet haben, hat die Band mit einem anderen Album überrascht: OK Human. Aufgenommen mit einem Orchester, besetzt aus 38 Musikern, inspiriert vom Beach-Boys-Album Pet Sounds und unserer befremdlichen Beziehung zu Technologie. Das Album ist üppig, unwiderstehlich und beinhaltet einen Titel „Grapes of Wrath“, der inspiriert ist von Frontmann River Cuomos tiefer und extrem sachkundiger Leidenschaft für Hörbücher. In dem Song gehts um Moby Dick, Mrs. Dalloway und John Steinbecks gleichnamiger Klassiker Die Früchte des Zorns. Ganz abgesehen davon singt Cuomo tatsächlich den Satz „Ich werde mein Audible rocken“.

Moby Dick

Wir wollten mehr darüber erfahren, also haben wir bei Weezer-Frontmann Rivers Cuomo nachgefragt. Obwohl er gerade eine Pause einlegt, hat er sich die Zeit genommen unsere Fragen zu beantworten.

Wir bei Audible lieben Weezer und waren mehr als begeistert zu hören, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. „Grapes of Warth“ ist der erste Rocksong über Hörbücher soweit ich weiß. Wie kam es dazu?

Ich bin vor ein paar Jahren nachts mal aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, also habe ich mich entschieden ein Hörbuch bei Audible zu starten. Das hatte ich zwar vorher auch schon oft gemacht, aber es war das erste Mal, dass ich es mitten in der Nacht angemacht habe. Ich war für ein paar Stunden wach und habe The Grapes of Wrath gehört. Obwohl ich in dieser Nacht nicht gut geschlafen habe, war es trotzdem irgendwie eine magische Erfahrung. Die Nacht macht irgendwas mit dem Gehirn – es gelingt mir, mich in einen Zustand voller Vorstellungskraft zu versetzen und tief die Welt des Autors einzudringen.
Am nächsten Tag bin ich aufgewacht und wollte ein paar Songs schreiben, das ist ja mein Job, und ich war ziemlich müde und nicht motiviert dazu. Aber dann war ich wieder in diesem Halbschlaf-Zustand der Nacht davor und es war irgendwie angenehm.

Ich habe mich an ein Interview von dem Producer Quincy Jones erinnert. Darin hat er erzählt, dass er, als er Michael Jacksons Album Thriller produziert hat, die ganze Zeit über im Halbschlaf hinter dem Mixpult war. Er hat was von Beta-Wellen erzählt, die das Gehirn produziert, und die einem helfen in einen kreativen und fantasievollen Zustand zu kommen, obwohl man hellwach ist und sich sehr bewusst ist, was man gerade tut. Ich glaube ich habe auch mal gehört, dass Thomas Edison, der große Erfinder, halb am Einschlafen war, als er sich diese unglaublichen Erfindungen ausgedacht hat. Also hab ich die Gelegenheit des Beta-Wellen-Zustands genutzt und einen Song über meine Erfahrung geschrieben, als ich mitten in der Nacht The Grapes of Wrath gehört hab. Und seitdem habe ich mir angewöhnt, Fiction-Hörbücher zu hören beim Einschlafen oder wenn ich nachts aufwache. Es ist eine wunderbare Möglichkeit, in die große Welt der Fantasie und des Einfühlungsvermögens dieser großartigen Autoren einzutauchen.

The Grapes of Wrath

Aus dem Songtext kann man erkennen, dass du ein großer Fan von den Klassikern bist. Gibt es andere Genres, die du auch magst?

Ja, ich bin großer Fan der Klassiker. Im Studium hatte ich den Schwerpunkt Englische Literatur und mich deshalb viel mit ihnen beschäftigt. Natürlich aber auch schon davor im Englisch-Unterricht in der Schule. Aber ich mag auch Sachbücher. Ich habe herausgefunden, dass es von der Tageszeit abhängt, welches Genre ich am liebsten höre. Am Morgen, wenn ich spazieren gehe, höre ich am liebsten Musik. Später am Tag, wenn ich schon viel an meiner eigenen Musik gearbeitet habe, und am späten Nachmittag oder nach dem Abendessen nochmal spazieren gehe – das sind die Zeiten, in denen ich am liebsten Sachbücher höre. Viele von ihnen sind Sach-Hörbücher über Wissenschaft, Soziologie, Psychologie oder Biografien.

Ich mag gute Non-Fiction-Stories, zum Beispiel wenn Menschen verrückte Dinge erlebt haben und es überlebt haben (oder auch nicht). Gerade bin ich durch mit In die Wildnis, die Geschichte von Chris McCandless, einem jungen Mann etwa im Alter von uns Weezer-Typen. Etwa zur gleichen Zeit, als wir mit Weezer angefangen haben, ist der in die Wildnis von Alaska gegangen und hat sich durchgeschlagen. Er hat vier Monate durchgehalten, ist dann aber verhungert. Also ja, ich höre solche Geschichten gerne am Tag, und in der Nacht tauche ich tief in Romane ein.

"„Es ist eine wunderbare Möglichkeit, in die große Welt der Fantasie und des Einfühlungsvermögens dieser großartigen Autoren einzutauchen.“

Rivers Cuomo

In die Wildnis

Manchmal, ganz selten, wenn ich von einer Show nach Hause komme und es so zwei oder drei Uhr in der Nacht ist und ich im Rücksitz des Taxis sitze und nicht wirklich im Halbschlaf, sondern eher zu 90% im Schlaf bin, dann höre ich Gedichte. Es ist irgendwie die einzige Zeit am Tag, zu der ich Gedichte hören kann. Ich weiß nicht wieso, denn eigentlich sollte man ja eher hellwach sein oder zumindest die mentale Energie haben, um die schwierigste Form des Texts verarbeiten zu können. Aber aus irgendeinem Grund kann ich mich besser konzentrieren, wenn ich kaum wach bin.

OK Human wurde beschrieben als Konzept-Album, dass du ein bisschen scherzhaft als „ein Tag in meinem Leben“ bezeichnet hast. Kannst du einmal erzählen, wie es dazu kam?

Manche bezeichnen OK Human als Konzeptalbum. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Konzeptalbum im engeren Sinne ist – es ist thematisch ziemlich kompakt, aber ich glaube normalerweise folge ich Stephen Kings Rat in seinen Memoiren On Writing. Ich habe es vor ein paar Jahren gelesen. Darin sagt er, man soll einfach schreiben. Beginne am Anfang und schreib alles auf bis zum Ende. Erzähl einfach eine gute Geschichte und das ist dann der erste Entwurf. Wenn du das gemacht hast, gehst du zurück, liest es nochmal und notierst dir die Themen. Vielleicht änderst du dann noch ein paar Sachen, um es thematisch besser aufeinander abzustimmen.

Das ist genau das, was OK Human ist. Ich habe nur darüber geschrieben, was so passiert und habe dann festgestellt, dass es irgendwie eine Geschichte über einen Tag in meinem Leben ist. In den Jahren, in denen ich das Album geschrieben habe, 2017 und 2018, habe ich viel über die Veränderungen in meinem Leben und meinen Beziehungen aufgrund von Technologie nachgedacht, auch durch die technischen Geräte, die so ziemlich jeden Aspekt in unserem Leben verändert haben.

On Writing

Wenn du an die Beziehung zwischen Menschen und Technologie denkst, ist es eher Angst oder Ehrfurcht?

Meine erste, unmittelbare Reaktion darauf, wenn ich die Menschen, die ich kenne fast immer auf einen Bildschirm starrend oder in Interaktion mit einem Gerät sehe - anstatt, so wie ich groß geworden bin, als wir uns noch miteinander beschäftigen haben, es um Verbindung, mentale Aktivitäten ging -... also meine erste, emotionale Reaktion darauf war irgendwie Entsetzen und das Gefühl von Verlust und auch die Angst: Oh Gott, wenn wir jetzt schon an diesem Punkt sind, wie wird es dann erst in 20 oder in 100 Jahren sein? Wo gehen wir als Menschen hin?

Aber mit ein bisschen Abstand betrachtet, erinnere ich mich daran, dass Generationen vor uns vermutlich das Gleiche gedacht, als das Leben sich vorwärts bewegt hat. Die neuen Technologien haben ihnen auch irgendwie Angst gemacht. In der Vergangenheit war das eben der Fernseher, Radio und zu irgendeinem Zeitpunkt auch Bücher. Jemand hat mal erzähöt, dass die Menschen vor hunderten Jahren entsetzt darüber waren, all die Menschen auf ein Blatt Papier starren zu sehen. Daran versuche ich mich zu erinnern. Und ich erinnere mich auch daran, dass es außerhalb unserer Kontrolle liegt – definitiv außerhalb meiner Kontrolle. Also kann ich nicht viel dagegen tun, außer mich zurückzulehnen, darüber staunen und ein Album darüber zu schreiben.

Du kommunizierst mit deinen Fans auf so vielen Plattform in Echtzeit. Wie ist das für dich? Ich kann mir vorstellen, dass das nicht zu dem Rockstar-Lifestyle gehört, den du dir vorgestellt hast, als du mit Weezer durchgestartet bist.

Als ich mit Weezer in den frühen 90ern angefangen habe, war die Beziehung zu unseren Fans ähnlich wie die, die ich zu Bands hatte als ich noch ein Kind war. Als Fan von Heavy-Metal-Bands bekommst du vielleicht mal Fanpost, entdeckst sie im Publikum oder draußen vor der Halle oder im Hotel. Sie versuchen Autogramme von dir zu bekommen oder wollen dir Geschenke geben, solche Sachen eben. Aber darüber hinaus gab es kaum Kommunikation.

Aber in den 90ern hat sich das geändert. Etwa in der Zeit, als wir unser drittes Album herausgebracht haben, 2001, waren wir in ständigem Austausch mit unseren größten Fans im Forum auf Weezer.com oder anderen Seiten. Wir haben unentwegt Ideen mit ihnen ausgetauscht – was irgendwie auch eine Art der Zusammenarbeit ist. Auf jeden Fall haben wir viel und unmittelbares Feedback von den Fans bekommen. Das hatten Bands davor nicht. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum wir in der ganzen Zeit den Kopf über Wasser halten konnten. Weil wir immer Informationen in Echtzeit von unserem Publikum bekommen haben und nie abgeschnitten waren... ich weiß es nicht, es ist nur eine Theorie.

„Und ich erinnere mich auch daran, dass es außerhalb unserer Kontrolle liegt – definitiv außerhalb meiner Kontrolle. Also kann ich nicht viel dagegen tun außer mich zurückzulehnen, darüber staunen und ein Album darüber zu schreiben.“

Rivers Cuomo

Eine kurze Geschichte der Menschheit

Jetzt hat sich das auf die großen Social-Media-Plattformen ausgeweitet und damit habe ich mich irgendwie mies gefühlt. Mir ging es nicht gut, wenn ich den ganzen Tag auf Twitter oder Instagram rumgehangen habe. Deshalb habe ich vor circa einem Jahr meine eigene Website programmiert: riverscuomo.com. Dort habe ich einen Chatroom und ein paar andere Möglichkeiten eingebaut, um mit den Fans Informationen auszutauschen. Das ist ziemlich cool. Es ist so, als wäre ich ein kleiner Gott, der die physikalischen Gesetze in dem Universum dort kontrollieren kann. Ich kann steuern, was die Leute dort sagen können. Abhängig von den Regeln, die ich ins Skript geschrieben habe, kann es sein, dass etwas geschrieben wird, was dann ganz anders im Text erscheint – das macht ziemlich Spaß.

Jedenfalls kann ich einen großen Einfluss auf die Kultur auf meiner Website nehmen und ich glaube die Leute fühlen sich da anders als auf den großen Social-Media-Plattformen. Da fühlt man sich ein bisschen wie ein Mülleimer für geistigen Unsinn. Das ist kein Ort, an dem man den ganzen Tag rumhängen will, schon gar nicht mit den Menschen, mit denen man sich eigentlich am meisten austauschen will. Das macht dann Spaß. Und vielleicht ist das auch ein neues Gebiet für Künstler, wenn nicht sogar Vorreiter einer Gesellschaft: ein eigenes kleines Online-Universum zu schaffen.

Welche Hörbücher denkst du, sollten Weezer Fans auf jeden Fall hören?

Ein Hörbuch, das ich Weezer-Fans empfehle ist Yuval Noah Hararis Eine kurze Geschichte der Menschheit. Ich weiß, es ist ein extrem populäres Buch, aber einige haben es bestimmt trotzdem noch nicht gelesen, und denen empfehle ich das mal zu tun. Es ist leicht zugänglich und wirft aber einen umfassenden Blick auf unsere Spezies, von Beginn der Evolution bis zum heutigen Tag. Und auch ein paar Überlegungen dazu, wo zur Hölle wir gerade hingehen. Es ist ein ziemlicher Augenöffner und wirft einen Blick auf das große Ganze.

Als Roman würde ich Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez empfehlen. Ein anderer umfassender Blick auf ein Jahrhundert im Leben einer Familie und die Veränderungen auf dem Weg in die moderne Zeit. Es ist mit unglaublich viel Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit geschrieben und sehr bewegend.

Hundert Jahre Einsamkeit

Weezers neues Album OK Human mit dem Titel „Grapes of Wrath“ ist als Stream auf Amazon Music erhältlich.