Geschichtsschreibung und Literatur werden von der Perspektive weißer Menschen – vor allem weißer Männer – geprägt. Doch diese dominante soziale Narrative schließt viele andere Lebensbereiche aus. Lebensbereiche und -situationen, mit denen viele Menschen nicht in Kontakt kommen. Geschichten, die viele nicht kennen. Zum Beispiel die von einer jungen Konzertpianistin, die an der renommierten Juillard School in New York City studiert hatte, aber ihre Ausbildung am Curtis Institute of Music in Philadelphia nicht abschließen durfte - trotz ihres anerkannten Talents. Aus ihr wurde nicht ganz freiwillig die einzigartige Jazzpianistin und Sängerin und Songwriterin Nina Simone. Ihre Biographie, ihre Geschichte, ist nur eine von vielen.

Dass es sie also gibt, diese anderen Lebensbereiche, lässt sich nicht leugnen.

Neue Perspektiven braucht das Land

Zugegeben, an der geflügelten Redewendung „Ich kann nicht aus meiner Haut“ ist durchaus etwas dran: Wie ein anderer Mensch, dessen Haut anders als die eigene aussieht, die Welt um sich herum und seine Rolle in ihr erlebt, wird ein anderer nie ganz nachvollziehen können.

"Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen."

Jorge Bucay

Aber es ist an der Zeit, diese Redewendung nicht mehr als Ausrede für den Unwillen, aus der eigenen Filterblase auszubrechen, zu verwenden. Denn: Die eigene Perspektive herauszufordern und die anderer Menschen einzunehmen, ist durchaus möglich.

Denken mal anders

„Das Großartige an Literatur oder überhaupt am Geschichtenerzählen ist ja, dass wir durch sie in andere Lebenswelten eintauchen können“, sagt Jackie Thomae, deren Roman Brüder im vergangenen Jahr erschienen ist. „Dadurch wird nicht nur klar wie groß und vielschichtig die Welt ist, sondern auch, wie ähnlich wir Menschen uns sind.“

Die Autorin plädiert dafür, bei der Auswahl eines neuen (Hör-)Buches nicht darauf zu achten, ob die Hauptfigur einem selbst möglichst ähnlich ist: „Geschlecht, Herkunft, Beruf, sexuelle Orientierung, Wohnort, sogar das Jahrhundert, in dem sie lebt – all das ist egal, wenn man sich auf eine Geschichte einlässt.“

"Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn."

Jorge Luis Borges

Literaturliste für neue Perspektiven

Dass ein solcher Perspektivwechsel ohne erhobenen Zeigefinger auskommt und stattdessen Spaß machen kann, dessen ist sich Jackie Thomae sicher. Sie empfiehlt folgende Hörbücher und Bücher, die uns alle ganz neue Sichtweisen entdecken lassen – und sie verrät, warum sie gerade diese Werke empfiehlt:

Girl, Woman, Other

"Eine britische Autorin, die, so schrieb die Presse, Großbritannien erzählt wie noch nie jemand vor ihr. Tatsächlich wechselt sie in jedem Kapitel die Perspektive, hat ein rasantes Tempo, einen großartigen Humor und eine Sprache, bei der man streckenweise denkt, man rappt, dabei liest man leise vor sich hin. Dafür gabs den Booker Preis 2019. Erscheint erst nächstes Jahr auf Deutsch. Entweder vormerken oder sich ans Original wagen – es lohnt sich."

Born a Crime

"Comedian und Moderator Trevor Noah erzählt seine Kindheit in Südafrika, wo die Verbindung seiner Eltern – einer schwarzen Südafrikanerin und eines weißen Schweizers – zu Zeiten der Apartheid tatsächlich eine Straftat war. Das alles ist nicht lange her, Noah ist erst Mitte dreißig, und doch wirkt es jetzt wie aus einer anderen Welt. Spannend, schlau und saulustig erzählt. Das Hörbuch gibt es nur im Original, von Trevor Noah selbst gelesen, also beste Stand-up-Comedy!"

Giovannis Zimmer

"Baldwin war nicht nur einer der bedeutendsten schwarzen Autoren, sondern auch eine der wichtigsten offen homosexuellen Stimmen. Man kann alles von ihm lesen oder hören, hier zwei Beispiele: Giovannis Zimmer ist eine schwule Liebesgeschichte. Ebenso gut: Beale Street Blues, was von einem schwarzen Paar handelt, das getrennt wird, weil der Mann unschuldig im Gefängnis landet."

Heimkehren

"Ein Buch, dem Zadie Smith voraussagt, dass es ein Klassiker wird. Yaa Gyasi wurde 1989 in Ghana geboren und lebt in den USA. Hier erzählt sie eine Saga, die vom 18. Jahrhundert im heutigen Ghana bis ins 21. Jahrhundert in den USA reicht. Einer der Romane der letzten Jahre, der sich am eindringlichsten mit dem Thema Sklaverei beschäftigt."

Die Nickel Boys

"Die Nickel Boys und Underground Railroad von Colson Whitehead sind beide anrührend. Beide Bücher erzählen ein Stück schwarze US-Geschichte auf eine Art und Weise, die man nicht mehr vergisst. Die Nickelboys spielen in den 1960ern in einer Strafanstalt für Minderjährige, Underground Railroad während der Sklaverei in den Südstaaten."

The Street

"Ann Petry wurde gerade wiederentdeckt. The Street ist von 1946, gilt als moderner Klassiker und handelt von einer jungen schwarzen Frau, die sich von ihrem Mann trennt und allein mit ihrem Sohn in New York durchschlägt. Die Wiederentdeckung ist so aktuell, dass ich diesen Roman auch noch nicht gelesen habe, aber alles, was ich darüber gehört habe, ist so gut, dass ich dies sofort nachholen werde."

Zum ganzen Interview mit Jackie Thomae geht's hier entlang!

Mehr Hörbücher zur Perspektiverweiterung

Der Wassertänzer
The Color Purple
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten
I Know Why the Caged Bird Sings
Feel Free
Sister Outsider
Firekeeper's Daughter

Plädoyers für einen Perspektivwechsel

Die politischen und soziokulturellen Spannungen des vergangenen Jahres haben gezeigt: Es ist dringend an der Zeit, neue Perspektiven einzunehmen. Diese Titel werben für mehr Weltoffenheit, Gleichberechtigung und Toleranz. Übrigens: Im Audible-Probemonat hörst du den Titel deiner Wahl völlig kostenlos.